„Das ist jetzt schon die dritte Aufstellung in Folge, bei der abgebrochen werden muss, weil ich mich nicht öffnen oder auf Gefühle einlassen kann …“, sagt Marianne frustriert.
„Was soll ich denn jetzt machen …?“
Marianne ist leider kein Einzelfall.
Immer wieder kommt es vor, dass es einzelne Personen gibt, bei denen Aufstellungen scheinbar nichts bringen.
Aber das ist nur vordergründig so.
Deshalb wende ich mich Marianne zu: „Marianne, ich rate dir, vorerst Dauerstellvertreterin zu werden!“
„Ja aber so kann ich doch nichts lösen!“, antwortet sie genervt.
Dann erkläre ich ihr, wie sie als Dauerstellvertreter doch noch später zu einer erfolgreichen Aufstellung kommen kann.
Innere Widerstände achtsam mit Geduld auflösen
Es gibt Menschen, die eine besonders starke Schutzschicht (siehe Schutzschichtmodell nach Dr. Trobe „Liebe lernen 1“ ) haben und gleichzeitig nicht gern ihre Gefühle zeigen.
Sie halten sehr viel bei sich und sehr viel auch zurück.
Ihr innerer-passiver, fast trotziger Widerstand kann auf der unbewussten Ebene Aufstellungen massiv sabotieren und verbraucht sowohl in der Aufstellung als auch beim Betroffenen viel Energie.
Exkurs: erweitertes Schutzschichtmodell
Eines der in die Aufstellungsarbeit gut passenden Modelle ist das Schutzschichtmodell nach Dr. Thomas Trobe, dass ich hier in einer von mir angepassten Erweiterung vorstellen möchte. Grundsätzlich ist es eine Art innere Kind-Arbeit.
Die Essenz ist der Teil in uns, der die universellen und individuellen Gaben unseres Seins enthält. Das Empfinden von Freude sei ein Beispiel für eine universelle Gabe, unser ganz eigenes, musisches Talent ein Beispiel für eine individuelle Gabe. Ganz unverfälscht können wir die Essenz in einem Kleinkind wahrnehmen.
Das Grundgefühl der Essenz ist: „Ich will mich ausdrücken, der Welt meine Gaben schenken und von der Welt beschenkt werden.“
Der verletzte Teil ist der Hort von Scham, Ängsten, Schuldbewusstsein, Selbstzweifeln usw. Trobe bezeichnet sie auch als „die Schicht verwundeter Verletzlichkeit“ (Liebe Lernen 1, S.15 ). Hier sind die unverheilten Wunden aus Ablehnung, Entwürdigung, Gewalt, Missbrauch, Schock etc. sowohl aus dem Elternhaus als auch generell von unserem kindlichen Umfeld gespeichert.
Das Grundgefühl hier ist: „Die Welt ist ein liebloser und unsicherer Ort.“
Die von uns geschaffene Schutzschicht ist unsere Strategie, unsere Verletzungen nicht mehr fühlen zu müssen und potenziell nicht mehr verletzt zu werden. Der Preis dafür ist der teilweise oder ganze Verzicht auf Lebendigkeit. Wir nehmen nach außen Rollen an und tragen Masken. Die Schutzschicht ist in Aufstellungen immer der Teil, der nicht fühlen kann oder will. Mit vertrauensbildenden Maßnahmen wie z. B. Achtsamkeit, Klarheit und Ehrlichkeit dürfen wir die Schutzschicht passieren.
Abweichend von Trobe kommt meiner Erfahrung nach dann, bevor wir zum verletzten Teil kommen, ein besonderer Hüter der Schwelle: der innere Soldat. Diese Metapher ist dem Buch Soulcraft: Die Mysterien von Natur und Seele von Bill Plotkin entnommen.
Der innere Soldat ist ein innerer Persönlichkeitsanteil, der speziell dazu da ist, die Schwelle zu unserem verletzten Teil zu bewachen. Er ist niemand, mit dem man groß diskutieren kann. Er hat die klare Order, niemanden durchzulassen. Wichtig ist deshalb in der Aufstellungsarbeit (und auch bei unserer inneren Arbeit, wenn wir allein mit unserer Verletzlichkeit arbeiten wollen), dem inneren Soldaten klar zu machen, dass der Krieg vorbei ist. Solange der innere Soldat denkt, dass noch der alte Krieg herrscht, wird er niemanden vorbeilassen. Im übertragenen Sinne müssen wir ihm seine Entlassungspapiere aushändigen und seinen Einsatz würdigen. Erst jetzt wird er uns den Weg freigeben zum verletzten Teil. Jetzt kann mit diesem gearbeitet werden und Lösung und Heilung können beginnen.
Wenn wir mit dem verletzten Teil eine Weile gearbeitet haben, müssen wir versuchen, ihn in die Essenz wieder einzugliedern. Jetzt treten uns zwei neue Hüter der Schwelle entgegen: der innere Kritiker und der innere Richter.
Der innere Kritiker versucht mit der Induzierung von Schamgefühlen die Eingliederung des verletzten Teils in die Essenz zu verhindern. Es ist die internalisierte Stimme von Eltern und Autoritätspersonen unserer Kindheit, die sich in uns verselbstständigt hat. Er spricht Sätze wie „Du bist es nicht wert!“, „Du bist unwürdig!“, „Was glaubst du, wer du bist, dass du …!“ usw.
Anders agiert der innere Richter. „Du bist für den Schlamassel selbst verantwortlich!“, „Du bist schuld!“ etc. Er lässt in uns permanent Schuldgefühle aufkommen und will so die Rückangliederung des verletzten Teils verhindern.
Beiden muss mit einem gesunden, klaren und reifen Erwachsenenbewusstsein begegnet werden. Die Aufgabe des Aufstellungsleiters ist es hier, den Klienten dabei zu begleiten und gegebenenfalls zu unterstützen, wenn er in innere Kindanteile abgleitet. Das ist kein Instant-Prozess, sondern ein behutsamer, respektvoller Weg, der eigene Grenzen und Möglichkeiten immer wieder austestet, bis Lösung und Heilung erfolgen können.
In der Körperarbeit nach Reich/Lowen …
… würde man Menschen wie Marianne eventuell dem Maso-Typ zuordnen, der nichts mit dem Maso aus Sado-Maso-Beziehungen zu tun hat (siehe hier auf Wikipedia ).
Diese Menschen haben es sehr schwer, sich zu zeigen, sich fallen zu lassen und überhaupt in ihre eigene Tiefe zu kommen.
Sie sind oft intellektuelle ‚Meister‘, aber auf der Gefühlsebene, wenn es Richtung andere Menschen geht, extrem gehemmt, sowohl durch Scham- als auch durch Schuldgefühle, wobei sie oft innerlich ein Überlegenheitsgefühl haben.
Sie stellen immer wieder fest, dass sie sich von einem Teil ihrer Gefühle wie abgeschnitten wahrnehmen.
Gern nehmen sie eine Opferhaltung ein und jammern, können aber unterschwellig hintenherum zurückschlagen.
Diesen Verhalten ist ihnen zur zweiten Natur geworden.
Aber es war eine Notwendigkeit, um in ihrer Familie als Kind zu ‚überleben‘.
Deshalb ist ihre Schutzschicht auch besonders undurchlässig.
Durch diese an die verletzte Schicht zu kommen, kann sich als nahezu unmöglich herausstellen.
Indirekt Vertrauen aufbauen
Wenn diese Menschen sich aber als Stellvertreter zur Verfügung stellen, wird ihre Schutzschicht nicht oder kaum aktiviert, sodass sie ähnliche Erlebnisse anderer Menschen und deren Lösungen nachvollziehen können (siehe auch den Artikel „Wie du als Stellvertreter von einer Aufstellung am besten profitierst“ ).
Es braucht allerdings eine größere Anzahl von Aufstellungen, bis eine solche Wirkung eintritt, dass sich eine erneute Aufstellung anbietet.
Meiner Erfahrung nach braucht man mindestens 10 Aufstellungstage mit mehreren Aufstellungen, wobei die Person dabei mindestens ein Mal Stellvertreter sein sollte.
Wenn Du ein/e Betroffene/e bist:
- Es gibt keinen Grund, sich selbst zu verurteilen. Das ist kein Nicht-Wollen, sondern Nicht-Können, ähnlich „Sei doch jetzt mal spontan!“
- Hadere nicht mit dem Schicksal: wie du in diesem Artikel siehst, brauchst du einfach mehr Zeit, Geduld und Achtsamkeit mit dir selbst – erlaube sie dir.
- Erkläre dem/der Aufstellungsleiter/in deine Problematik, sodass er/sie sich darauf einstellen können, wenn du irgendwo eine Aufstellung machst. Manchmal kann alles Gute zusammenkommen und er/sie findet gerade dann einen Weg. Das ist kein Widerspruch zu oben, sondern auch du kannst Glück haben.
- Generell bringt dir viel Aufstellungsarbeit wertvolle Erfahrungen mit Menschen, die deine negativen Kindheitsmuster überschreiben können.
1 Jahr später macht Marianne erneut eine eigene Aufstellung …
Sie hat in der Zwischenzeit etliche Aufstellungstage besucht und sich immer wieder als Stellvertreterin zur Verfügung gestellt.
Dadurch hat sie nicht nur neue Freunde kennen gelernt und viel Spaß gehabt.
Sie hat auch tief gehende Erfahrungen gemacht, die sie als Frau, Mensch und spirituelles Wesen haben reifen lassen.
In einem intensiven Prozess kann sie die unterdrückte Wut gegenüber ihrer Mutter ausdrücken, den Schmerz der inneren Trennung von ihr überwinden und zu einer Versöhnung im Herzen gelangen, die ihr Leben nachdrücklich erleichtert.
Ihre Kinder profitieren auch von dem neuen Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihrer Oma, war doch bisher immer eine latente Aggression zwischen den beiden.
Marianne kann die letzten Lebensjahre ihrer Mutter mit ihr genießen und hat allen alten Groll losgelassen.
Wie Friede im Herzen doch die Lebensqualität erhöhen kann …
Fazit:
Manche Prozesse brauchen ihre Zeit.
Mit dem richtigen Einsatz von Geduld und Achtsamkeit profitieren auch Menschen mit starker Schutzschicht von den Segnungen der Aufstellungsarbeit, wenn sie sich längere Zeit als Stellvertreter zur Verfügung stellen.
Folge deinem eigenen Tempo!
Körper, Geist und Seele werden es dir danken.
Schreibe einen Kommentar