
Der Geburtsprozess vom Einsetzen der Wehen bis zum Durchtrennen der Nabelschnur ist ein komplexer und herausfordernder Vorgang für Mutter und Kind (und manchmal auch für begleitende Helfer wie Hebammen und Ärzte).
Durch die symbiotische Verbindung zwischen Mutter und Kind bleiben dem Kind Sorgen, Ängste und Schmerzen nicht verborgen und werden sogar als eigene eingestuft.
So kommt es zu Rückkopplungen zwischen den beiden und sich selbst verstärkenden Gefühlen und Empfindungen.
Dies behalten wir im Hinterkopf, wenn wir uns Rolfs Fall ansehen.
Rolfs Fall
Rolf ist ein 32jähriger Mann, dessen Lebensmittelpunkt die Arbeit ist. Er hat es noch nie geschafft, eine Beziehung länger als drei Monate zu führen.
Was ihn anfänglich nicht störte, ihn jetzt aber doch zunehmend beschäftigt – zumal er in den letzten fünf Jahren überhaupt keine Beziehung mehr hatte. Nachdem wir die „üblichen Verdächtigen“ in diesem Fall ausgeschlossen hatten (Triangulierung, Identifikation usw.), machten wir uns tiefer auf die Suche. Rolf kam mit der Nabelschnur um den Hals gewickelt auf die Welt. Er war schon ganz blau angelaufen und der Arzt musste schnell handeln, um Rolfs Leben zu retten. Er konnte zwar keinen Zusammenhang mit seinen Beziehungsproblemen sehen, war aber bereit, dorthin zu schauen. Mir war aufgefallen, dass, wenn er von der Nabelschnur sprach, leicht schluckte und seine Augen abwesend erschienen (mögliche Dissoziation, ein wichtiges Traumasymptom).
Wir hatten zuvor in einer Einzelsitzung die Ressource Langeoog (nordfriesische Insel) als seine „Seeleninsel“, wo er sich immer pudelwohl fühle, herausgearbeitet.
Wir stellten die Geburtsszene nach, auch, indem wir dem Stellvertreter von Rolf lose ein Seil um den Hals legten (nachdem dieser damit einverstanden war):
Abbildung 1: Anfangsbild
R=Rolf, M=Mutter, A=Arzt, H=Hebamme, F1&F2=Frauen, die Muttermund bilden
Zunächst scheint alles in Ordnung zu sein. Rolfs Stellvertreter fühlt sich erschöpft, aber gut und auch allen anderen Beteiligten geht es – außer einer Anspannung bei der Mutter – gut.
Jetzt spannen wir vorsichtig das Seil etwas fester um Rolfs Stellvertreter und der Muttermund ist hinter ihm.
Abbildung 2: Zwischenbild 1
R=Rolf, M=Mutter, A=Arzt, H=Hebamme, F1&F2=Frauen, die Muttermund bilden, Re=Ressource (Langeoog), gK=gute Kraft
Kurz nach dem Zuziehen des Seils beginnt der Stellvertreter Rolfs leicht zu zittern. Sofort stellen wir seine Ressource (Re) hinter ihn, um ihn zu stabilisieren.

Ich bitte eine anwesende Kollegin, beim Klienten Rolf zu bleiben und lockere das Seil beim Stellvertreter Rolf wieder etwas.
L=Leiter der Aufstellung, KR=Klient Rolf, andere Abkürzungen wie oben
L (zu KR): Kannst du das Mitansehen oder ist dir das zu viel?
KR: Es geht. Als er Anfing zu zittern, wurde mir ganz mulmig …
L (zu KR):Bitte achte auf dich und melde dich sofort bei mir oder bei meiner Kollegin, wenn es dir zu viel wird, OK?
KR: Ja.
L (zu R): Wie geht es dir jetzt, wo wir das Seil wieder gelockert haben und du deine Ressource im Rücken hast?
R: Besser. Ich möchte hier endlich raus …
L (zu R): Gleich. Ich frage nur kurz deine Mutter, wie es ihr geht und dann bin ich wieder bei dir, OK?
R: Ja.
L (zu M): Was ist bei dir?
M: Ich habe schreckliche Angst um mein Baby. Die Nabelschnur um seinen Hals macht mir Angst.
L (zu M): Kannst du das aushalten oder brauchst du Unterstützung?
M: Ich weiß nicht.
L (zu gK): Gut, Karin, komme bitte mal als gute Kraft in die Aufstellung und stelle dich zur Mutter.
Abbildung 3: Zwischenbild 2
R=Rolf, M=Mutter, A=Arzt, H=Hebamme, F1&F2=Frauen, die Muttermund bilden, Re=Ressource (Langeoog), gK=gute Kraft
L (zu M): Geht es dir jetzt besser?
M: Ja. Viel besser.
L (zu M): Kann ich mich wieder deinem Sohn zuwenden.
M: Unbedingt …
L (zu R): Was macht das mit dir, dass deine Mutter jetzt eine gute Kraft im Rücken hat?
R: Es erleichtert mich auch. Viel von ihrer Angst war auch bei mir und ich kann mich jetzt etwas entspannen.
L (zu KR): Ich arbeite jetzt mit deinem Stellvertreter und dem Seil als Symbol für die Nabelschnur – ist das OK für dich?
KR: Äh … ja.
L (zu R): Gut. Bitte melde dich sofort, wenn sich bei dir etwas ändert. Ich werde immer wieder einen Blick zu dir werfen, OK?
KR: Ja, OK.
L (zu R): Gut. Rolf, stell dir mal vor, wir würden die Nabelschnur jetzt wieder etwas enger machen – könntest du das aushalten?
R (schließt die Augen): Mmmhh … ich glaube, es würde gehen.
L (zu R): Ich ziehe jetzt ganz langsam zu, immer nur ein kleines Bisschen, bis du Stop! Sagst, OK?
Kurz darauf ruft Rolfs Stellvertreter Stop!
L (zu R): War das schon zu weit oder war es genau an der Grenze?
R: Vielleicht schon zu weit.
L (zu R): OK, ich mache etwas lockerer. So besser?
R: Ja.
L (zu KR): Ist bei dir alles in Ordnung? Konntest du mit deinem Stellvertreter mitgehen?
KR: Etwas angespannt. Ja, ich bin bei ihm.
L (zu KR): Gut. Ich würde ihn jetzt einen Schritt machen lassen, worauf sich das Seil kurz stärker spannt und der Arzt es dann schnell entfernt. Spür da mal rein – könntest du es mitansehen?
KR: Mmmhh … ich glaube, ja.
L (zu KR): Es wäre auch vollkommen OK, wenn wir es hierbei belassen und irgendwann später weitermachen – es ist schon viel Heilungsenergie angeregt worden … Weitermachen oder stehen lassen?
KR: Bitte weitermachen!
L (zu R): Ja, auch bei mir kam ein Ja! Wie sieht es beim Stellvertreter aus?
R: Ja, ich mache das.
L (zu R): Gut. Die Ressource folgt dir auf dem Fuß und du lässt dich dann in die Arme deiner Mutter „fallen“ – OK so?
R: Ja.
Rolfs Stellvertreter macht den Schritt, der Arzt entfernt das Seil und Rolf schmiegt sich in die Arme seiner Mutter.
Abbildung 4: Endbild
R=Rolf, M=Mutter, A=Arzt, H=Hebamme, F1&F2=Frauen, die Muttermund bilden, Re=Ressource (Langeoog), gK=gute Kraft
L (zu M): Sag ihm mal – „Es war schlimm, aber du hast überlebt!“
M (zu R): Es war schlimm, aber du hast überlebt!
L (zu R): Spür mal deine Mutter, spüre auch deine Ressource. Lass dir Zeit!
L (zu KR): Wie ist es für dich?
KR: Puh … erleichternd. Ja, ich habe überlebt.
L: OK, lasst das alle mal langsam einsacken – wir beenden demnächst die Aufstellung.
Nachbetrachtung
Bei Traumaaufstellungen ist es besonders wichtig, ständig auf den Klienten und seinen Stellvertreter zu achten. Ich habe das hier mal in die Dialoge mit eingebaut, um es etwas plastischer zu machen.
Obwohl wir die ursprüngliche Traumasituation ähnlich einer Traumakonfrontation nachgestellt hatten, blieben wir doch immer auf Abstand zu einer karthatischen Entladung (sie hatte sich durch das Zittern beim Stellvertreter angedeutet).
Sich etwas vorstellen, dann das Vorgestellte vorsichtig umsetzen, nachspüren und langsam weitergehen sind achtsamere Schritte, um sich dem Trauma zu nähern.
Auch ein Satz wie „Du hast es überlebt!“ ist sehr heilsam, weil er den Betroffenen wieder in der heutigen Zeit verankert.
Rolfs Kernproblem war – durch das Geburtstrauma bedingt – übrigens, dass er es nie richtig ins Leben geschafft hat. In einer weiteren Aufstellung konnte er dann das Leben „nehmen“. Seitdem klappt es auch wieder mit den Beziehungen – dem Thema, mit dem er ursprünglich zur Aufstellung gekommen ist.
Dies ist ein Auszug aus meinem Buch „Familienstellen und Trauma – Mit Geduld, Liebe, Achtsamkeit und Sanftmut traumatische Erfahrungen heilsam transformieren“.
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