Der Suche nach der Berufung Raum geben

© llhedgehogll - Fotolia.com
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Eines der häufigeren Anliegen im Rahmen des Familienstellens ist die Frage nach der ureigenen Berufung. Hintergrund ist oft eine latente oder offene Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Jobsituation.

Die verfügbare Ratgeber-Literatur bietet eine Fülle von Ansätzen, um seine Berufung zu finden, doch scheitern viele Ratsuchenden, weil sie es nicht schaffen, die oder auf ihre innere Stimme zu hören.

Die Aufstellungsarbeit bietet hier einige gute Möglichkeiten.

Eine Methode möchte ich heute anhand Julias Aufstellung darstellen.

Julias Aufstellung

Julia ist eine 34jährige Frau mit jahrelanger Erfahrung als Kindergärtnerin. Sie liebt den Umgang mit Kindern, hat aber selbst (noch) keine.

In den letzten Jahren hat sie mehr und mehr festgestellt, dass sie mit immer weniger Freude in den Kindergarten geht. Obwohl sie nette Kollegen hat und eine liebevolle Chefin und sie auch keine Probleme mit den Eltern und Kindern hat, fühlt sehr mehr und mehr Unzufriedenheit in sich hochkommen.

Für Julias Aufstellung wandeln wir das klassische Familienaufstellungs-Setting in einigen Punkten ab.

Der Raum außerhalb des Stuhlkreises ist nicht mehr das Reich der Toten, sondern der Bereich außerhalb ihres Inneren (wir bewusst offen gelassen, was „ihr Inneres“ genau bedeutet, um nicht mit Interpretationen im Vorhinein sich nur leise zeigende, nur intuitiv wahrnehmbare Stimmen abzuwürgen).

© stephiera - Fotolia.com
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In den Kreis waren folgende Anteile aufgestellt:

  1. Julias Seele (S)
  2. Julias Berufung (B)
  3. Julia selbst (J)
  4. Alle Einwirkungen, Erwartungen und Einflüsse seitens ihrer Mutter und der mütterlichen Ahnenlinie (M)
  5. Alle Einwirkungen, Erwartungen und Einflüsse seitens ihres Vaters und der väterlichen Ahnenlinie (V)
  6. Alle Einwirkungen, Erwartungen und Einflüsse seitens Autoritätspersonen und Vorgesetzten, auch Autoren von Büchern derart „Man sollte …“ inkl. Bibel (A)
  7. Alle Einwirkungen, Erwartungen und Einflüsse von Freunden, Bekannten, der Gesellschaft, dem Umfeld (G)
  8. Das Bedürfnis nach Sicherheit (Si)

Es ergab sich folgendes Anfangsbild:

Julia 1

Grafik 1: Anfangsbild

Julia ist wie umzingelt von den Erwartungen und Einflüssen anderer. Die Berufung steht am linken Rand und schaut interessiert auf den „Haufen Leute“ vor ihr.

Die Seele steht am rechten Rand und schaut etwas traurig in Richtung des von Julia.

Diese schaut auf Vater und die Autoritätspersonen vor sich.

L = Leiter der Aufstellung, andere wie oben

L (zu J): Wie geht es dir hier?

J: Puh, ich fühle mich bedrängt und habe das Gefühl, mindestens 1000 Erwartungen erfüllen zu müssen.

Da wir hier nicht in die Art von Prozessarbeit reingehen wollen, die die einzelnen Beziehungen zu den jeweiligen aufgestellten Anteilen untersucht, bitte ich die Julia umgebenden Stellvertreter, sich langsam immer einen einzigen Schritt von ihr zu entfernen, sodass sie reinspüren und eventuelle Veränderungen wahrnehmen kann.

Julia 2

Grafik 2: Zwischenbild 1

L (zu J): Wie geht es dir jetzt, nachdem alle einen Schritt von der weggerückt sind?

J: Erleichtert … auch klarer [sie dreht sich um ihre eigene Achse und schaut sich um] …

L: OK. Wenn es für dich stimmig ist, wollte ich dir vorschlagen, dass du zu jedem der dich umgebenden Stellvertreter gehst, ihn benennst und deine Wertschätzung ausdrückst für das, was er bisher in deinem Leben bewirkt hat. Dann bitte ihn, sich für diese Aufstellung langsam zurückzuziehen und dein Inneres zu verlassen. Probiere es mit deinen Worten – ich kann dir aber auch Worte vorgeben, wenn du magst.

J: Ich probier’s mal. [Sie geht zuerst zu den Autoritätspersonen] Hallo Autoritätspersonen. Danke für das, was ich von euch lernen durfte für mein Leben. Bitte verlasst jetzt mein Inneres!

Nacheinander geht Julia zu allen 5 sie umgebenden Stellvertretern in der Reihenfolge Autoritätspersonen, Vater, Gesellschaft, Mutter und Sicherheit.

Während sich diese Stellvertreter langsam, Schritt für Schritt aus dem Stuhlkreis herausbewegen, wandert die Seele allmählich in Richtung Berufung.

Julia 3

Grafik 3: Zwischenbild 2

Julia richtet sich immer weiter auf, während die 5 Stellvertreter Richtung Außenkreis gehen.

Dann sind die 5 „draußen“.

Julia 4

Grafik 4: Zwischenbild 3

Die Seele hat sich mittlerweile rechts neben der Berufung eingefunden und lächelt Julia an.

L (zu J): Spür da mal jetzt rein … wie geht es dir jetzt?

J (atmet ein paar Mal ein und aus): Gut … ungewohnt … neuartig … ich weiß nicht …

L (zu J): OK. Schau mal ohne Erwartungen einfach mal hin zu deiner Seele und deiner Berufung … in die Augen … lass dir Zeit … fühle den freien Raum um dich … kannst du das wahrnehmen?

J: Ja … es fühlt sich gut an …

L (zu J): Wenn du breit bist und dieses neuartige Gefühl ganz in dich aufgenommen hast, kannst du zu deiner Berufung mal hingehen – aber bitte ganz langsam und achtsam …

Julia geht langsam auf Berufung und Seele zu. Nach zwei Schritten kommen ihr die beiden langsam entgegen. Die Atmosphäre ihm Raum wird dichter und stiller.

Schließlich erreichen die Drei einander.

Julia 5

Grafik 5: Schlussbild

Vorsichtig nehmen sie sich in die Arme und stille Tränen fließen bei Julia.

Die Atmosphäre wird noch dichter und wir alle werden Zeuge einer tiefen Begegnung auf der seelischen Ebene.

Minutenlang stehen die Drei in ihrer Umarmung.

Nach einiger Zeit beende ich die Aufstellung.

Nachbetrachtung

© markus dehlzeit - Fotolia.com
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Nachdem den innerseelischen Prozessen Raum gegeben worden ist, kann die Suche nach der Berufung als natürlicher Wachstumsprozess starten.

Wer von einer Aufstellung eine konkrete Aussage im Sinne von „Deine Berufung ist Goldschmiedin!“ erwartet, wird womöglich enttäuscht sein.

Das kann und sollte eine Aufstellung bei dieser Art Setting nicht leisten.

Innerlich wissen wir genau, was unsere Berufung ist. Aber die Stimmen unserer Umgebung, unseres Egos oder die bereits internalisierten Stimmen unseres Familiensystems machen es uns schwer, die zarte, aber nachhaltige Stimme unsere Berufung wahrzunehmen.

Ich forderte Julia sozusagen als Hausaufgabe auf, dass Schlussbild sich immer wieder zu vergegenwärtigen und damit auf die Erforschung ihrer Berufung zu gehen.

Jetzt machen Onlinekurse wie The Call von Veit Lindau oder Ratgeberbücher erst Sinn.

Ein Mensch, der seiner Berufung folgt, hat sich einen wichtigen Teil des Lebensglücks erschlossen.

Ich wünsche dir alles Gute bei der Suche nach deiner Berufung und ich beglückwünsche dich, wenn du sie schon gefunden hast.


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