„Mein Vater mischt sich in alles ein, obwohl ich schon 32 und Mutter zweier Kinder bin …“
„Was sagt dein Mann dazu, Frauke?“
„Nichts. Er will sich da nicht einmischen – mein Vater hat unser Haus bezahlt, wofür mein Mann dankbar ist.“
„Ist das Haus dann der Freibrief für die Einmischung deines Vaters gewesen?“
„Nein. Er hat sich schon immer in alles in meinem Leben eingemischt …“
„OK, lass uns das mal in der Aufstellung ansehen …“
Fraukes Aufstellung
Bei einem Thema wie Selbstbestimmung ist es gut, den Ratsuchenden selbst reinzustellen und nicht über einen Stellvertreter zu arbeiten.
Dies macht die Aufstellungserfahrung unmittelbarer.
Zuerst stellen wir Frauke (F) und ihre Herkunftsfamilie auf, also den schon angesprochenen, dominanten und sich dauernd einmischenden Vater (V) und ihre Mutter (M).
Frauke hat ihre Mutter als schwach und „kuschend“ gegenüber ihrem Vater erlebt.
Die Mutter hat ihrer Tochter also ein Abhängigkeitsverhältnis als Frau vorgelebt.
Das Anfangsbild der Aufstellung sah folgendermaßen aus:
Anfangsbild
L = Leiter der Aufstellung, F = Frauke, V = Vater, M = Mutter
L (zu F): Wie geht es dir an deinem Platz, wo du stehst?
F: Etwas angespannt. Wie beurteilt. Ich versuche instinktiv, es meinem Vater recht zu machen … Dass meine Mutter neben mir steht, tut mir gut.
L (zu M): Wie geht es der Mutter?
M: Auch etwas angespannt. Ich versuche, es meinem Mann recht zu machen. Gleichzeitig vermittelt er mir Sicherheit …
L (zu V): Wie geht es dir damit, was deine Frau und deine Tochter sagen?
V: Auch ich fühle mich angespannt. Ich schaue genau, dass den beiden nichts passiert.
L (zu V): Wie wäre es für dich, wenn du etwas lockerer werden würdest bzw. die Zügel etwas schleifen lassen würdest?
V: Schlecht! Es könnte etwas passieren.
L (zu V): Nimmst du war, dass deine Frau und deine Tochter unter deiner „Überwachung“ leiden?
V: Mmmh … nein …
L (zu F): OK. Dein Vater ist da etwas gefangen in seiner Sichtweise. Ist etwas Schlimmes in seiner Herkunftsfamilie passiert?
F: Nicht, dass ich wüsste …
L (zu F): OK. Bist du zu einem Experiment bereit, was deinem Vater vielleicht nicht gefallen könnte?
F (zögert kurz): Äh … ja …
L (zu F): Gut. Stell mal deine gesunde Aggressivität in die Aufstellung.
Frauke wählt eine Stellvertreterin für die Aggressivität (A) aus.
Zwischenbild 1
Sofort kommt Bewegung in die Aufstellung. Frauke wendet sich ihrer Mutter zu und diese ihr. Der Vater wendet sich ab und zeigt allen demonstrativ seinen Rücken. Die neu hinzugekommene Aggressivität schaut zu Frauke, die sich aber abwendet.
L (zu F): Was ist jetzt anders, wenn die Aggressivität in der Aufstellung ist – deine gesunde Aggressivität?
F: Ich fühle mich etwas unwohl. Gleichzeitig zieht es mich zu meiner Mutter.
L (zu V): Wie geht es dem Vater jetzt?
V: Ich will davon nichts wissen. Es gibt keine gesunde Aggressivität.
L (zu V): Ist für dich also Aggressivität immer schlecht?
V: Ja!
L (zu F): War das bei deinem Vater so? Empfand er Aggressivität als schlecht?
F: Ja, da war er sehr empfindlich.
L (zu M und F): OK. Nun zu euch. Schaut einander mal an.
L (zu F): Wie viel Nähe verspürst du zu deiner Mutter?
F: Schon nah. Sie ist wie eine Verbündete für mich gegenüber meinem Vater.
L (zu F): Jetzt ist es ja so, dass deine Mutter vor deinem Vater „kuscht“, wie du es vorhin genannt hast – gefällt dir das?
F: Nein. Ich wünschte mir, dass sie im Paroli bietet.
L (zu F): Tut sie aber nicht. Was macht das mit dir?
F: Mmhh … es macht mich irgendwie traurig … und auch wütend …
Die Stellvertreterin der Aggressivität kommt einen Schritt näher.
F: Aber jetzt fühle ich mich nur noch resigniert … Wie als hätte jemand den Stecker gezogen …
Die Stellvertreterin der Aggressivität geht einen Schritt zurück.
L (zu F): OK. Sag mal in eigenen Worten zu deiner Mutter – wenn es für dich stimmt: „Wenn ich vor Vater kusche, fühle ich mich dir sehr nahe!“
F: Wenn ich vor Papa kusche, fühle ich mich dir sehr nahe, Mama! … Ja … so ist es …
Die Mutter lächelt.
L (zu F): Frauke, du verrätst hier gerade nicht die weibliche Selbstbestimmung, sondern hier wirkt gerade die starke Kraft der Bindungsliebe zu deiner Mutter – kannst du das anerkennen …?
F (seufzt): Ja …
L (zu F): Gut. Wenn es für die stimmig ist, sage mal deiner Mutter folgenden Satz in deinen Worten: „Mama, meine Liebe zu dir bleibt, auch wenn ich gegenüber Vater nicht mehr kusche!“
Frauke sagt es. Die Stellvertreterin der Aggressivität kommt zwei Schritte näher.
L (zu F): Wende dich mal deiner gesunden Aggressivität zu!
In einem längeren Prozess wendet sich Frauke ihrer Aggressivität zu. Langsam laufen sie in kleinen Schritten aufeinander zu. Zuerst fühlt es sich für Frauke sehr ungewohnt an, ihre Aggressivität zu spüren und zu berühren. Dann umarmen sie sich kurz und kräftig. Nun wenden sie sich gemeinsam Fraukes Vater zu.
Zwischenbild 2
L (zu F): OK. Wenn es für dich stimmig ist, sage deinem Vater jetzt etwas in eigenen Worten wie: „Vater, ich liebe dich. Ich habe einen für mich wichtigen Wunsch. Vater, bitte misch dich nicht mehr ungefragt in mein Leben ein!“
Sie sagt es noch etwas zögernd.
L (zu V): Wie geht es dir damit, wenn dir deine Tochter so begegnet?
V: Also … es ist neu für mich … es gibt einen Teil von mir, der ihr versprechen möchte, mich nicht mehr einzumischen. Aber dann ist da ein anderer, stärkerer Teil, der glaubt, dass es gefährlich wäre, wenn ich misch nicht einmische …
L (zu F): Da scheint etwas Tiefes bei deinem Vater zu wirken. Wollen wir uns das mal anschauen, ohne dass wir uns in sein Schicksal einmischen?
F: Ja.
Wir stellen die Eltern des Vaters, also Fraukes Großeltern väterlicherseits in die Aufstellung.
Zwischenbild 3
Die Atmosphäre im Raum wird angespannter. Der Vater steht hinter seinen Eltern. Die Großmutter steht fast am Rand des Stuhlkreises in schaut ins Reich der Toten. Der Großvater wirkt schwach, aber dem Leben zugewandt.
Es wäre eine Einmischung in das Schicksal des Vaters gewesen, hier etwas zu machen.
Das Aufstellungsbild lässt einige Vermutungen zu, die das Verhalten des Vaters gut erklären.
Dadurch, dass der Vater hinter seinen Eltern steht, ist er „größer“ als seine Eltern. Er ist sozusagen „parentifiziert“. Die Eltern sorgen nicht für ihn, sondern er sorgt energetisch für seine Eltern. Besonders scheint er seine Großmutter davon abzuhalten, ins Reich der Toten zu gehen – deshalb vielleicht das dauernd alarmierte Gefühl des Vaters, dass etwas Schlimmes – gerade im Zusammenhang mit Frauen – jederzeit passieren kann.
Der schwache Großvater wird durch den Vater ebenfalls mitkompensiert.
Der Vater ist in einer extrem angespannten Lage und er versucht, mit Dominanz und Kontrolle seine Herkunftsfamilie „am Leben“ zu erhalten.
Dieses Verhalten ist ihm scheinbar so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er nicht mehr aufhören kann, sich in alle Belange einzumischen.
Frauke hat jetzt mehr Verständnis, warum der Vater sich dauernd bei ihr einmischt. Abschließend begegnet sie ihrem Vater mit der Aggressivität im Rücken.
Schlussbild
L (zu F): Sag deinem Vater etwas wie: „Ich weiß nicht genau, warum du alles kontrollieren musst. Du wirst dafür gute Gründe haben. Bitte habe aber Verständnis dafür: auch wenn das Verhältnis zu dir schlechter werden sollte, werde ich deine Einmischungen in mein Leben nicht mehr zulassen.“
Sie sagt es mit ungewohnter Kraft in der Stimme.
L (zu V): Kannst du das so annehmen?
V: Es fällt mir schwer …
L (zu F): OK. Sage ihm, dass es dir ernst ist und du auch für eine Zeit lang auf den Umgang mit ihm verzichtest, wenn er sich weiter einmischt.
Sie sagt es.
Der Vater nickt nur stumm.
Wir beenden die Aufstellung.
Nachbetrachtung
Das ganze Geschehen muss erst noch langsam in Frauke einsinken.
In diesem Fall war die Selbstbestimmung von mehreren Seiten eingekreist.
Die Bindungsliebe zur Mutter war mit dem Kuschen vor dem Vater verbunden.
So wie es sich hier gezeigt hat, hat die Dominanz und Einmischung des Vaters deshalb so viel Kraft, weil er seine Mutter (Fraukes Großmutter) vor dem Tod bewahren will (wollte).
Wahrscheinlich hat der Vater auch eine Autoaggressivität der Großmutter (eventuell Selbstmordabsichten) gespürt und konnte deshalb kein normales Verhältnis zu gesunder Aggressivität aufbauen.
Ob Fraukes Aggressivität nur verdrängt oder schon richtiggehend abgespalten war von ihrer Persönlichkeit, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen.
Dass es einer Aufstellung bedurfte, sie wieder zu integrieren, könnte für eine Abspaltung sprechen.
Ohne eine gesunde Aggressivität (oder Wut etc.) ist eine freie Selbstbestimmung nicht möglich.
Sie sorgt dafür, dass die persönlichen Grenzen nach außen geschützt werden.
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