Familiärer Missbrauch über Jahre hinweg – Ist das Leben gelaufen?

© Gina Sanders - Fotolia.com
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Nadeschda erzählt, wie es ihr früher erging:

„Vorgestern war mein 10. Geburtstag. Ein Samstag. Babuschka war extra angereist und ich fühlte mich seit Langem wieder sicher. Sonntagabend ist sie wieder abgereist. Heute ist später Montagabend. Ich höre, wie mein Vater die Haustür hereinkommt, und erstarre.

Bitte geh an meinem Zimmer vorbei, bitte …!

Er geht ins Bad und ich wage kaum zu atmen. Er singt lallend und ich weiß, dass ich heute dran bin … Schnell taste ich im Dunkeln nach der versteckten Creme, um mich untenherum einzuschmieren. Sonst tut es noch viel, viel mehr weh …

Die Tür geht auf. Ich stelle mich schlafend. Es nützt nichts …“

„… er zieht sich aus und kommt zu mir ins Bett.

Nein, Vater, ich habe dich nicht vermisst! Nein, es ist nicht schön für mich … Nein … nein … nein …! schreie ich in meinem Inneren, während er brutal in mich eindringt und mir gleichzeitig den Mund zuhält.

Er riecht nach Schweiß, Wodka und billigem, polnischen Bier.

Hoffentlich ist er schnell fertig!

Aber es dauert lange, denn er hat viel getrunken.

Plötzlich schaue ich auf mich herunter: auf das kleine Mädchen, das man unter dem Körper ihres Vaters nicht mehr erkennen kann. Das vor Angst erstarrt nur noch will, dass es vorbei ist.

Ich fühle nichts und alles kommt mir unwirklich vor – und sinnlos.

Warum bemühe ich mich zu atmen? Warum schmerzvolle Tränen? Warum nicht einfach sterben …?

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Endlich ist er fertig und gibt mir einen Klaps auf den Po.

‚Morgen ist wieder dein Arsch dran, sonst leierst du mir da unten noch aus …‘, lallt er und zieht seine Hose an.

Er verlässt das Zimmer und torkelt in die Küche.

Ich ziehe zitternd meine Schlafanzughose wieder hoch und weine mich in den Schlaf …“

Es ist minutenlang still im Aufstellungsraum, nachdem Nadeschda geendet hat.

„Mein Vater hat mich, seit ich 8 Jahre war bis 13, missbraucht. Ich weiß nicht, warum er aufgehört hat. Vielleicht hatte er Angst, dass ich von ihm schwanger werde.“

Leider ist Nadeschdas Schicksal kein Einzelfall. Und auch kein rein russisches Phänomen.

Auf der ganzen Welt und auch in Deutschland ergeht es Kindern ähnlich wie ihr.

 

Kindesmissbrauch in Deutschland

Wikipedia schreibt (https://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_von_Kindern#Deutschland ):

Gemäß der polizeilichen Kriminalstatistik findet der sexuelle Missbrauch zu 92 % im Alter von 6 bis 14 Jahren statt. Im Alter von 0 bis 6 Jahren sind 8 % der missbrauchten Kinder betroffen. Jährlich wird von etwa 300.000 Fällen ausgegangen, wobei die Dunkelziffer zwischen 1:15 (Bundeskriminalamt) und 1:20 (Kavemann und Lohstöter) festgelegt wird. Mädchen sind zehnmal häufiger von sexuellem Missbrauch betroffen als Jungen. Die Täter sind nach Angaben der Bundesregierung zu 93 % dem Kind bekannt, zu zwei Drittel gehören sie der Familie oder deren nahem Umfeld an. Es wird davon ausgegangen, dass jeder 18. bis 20. Missbrauch zur Anzeige kommt, wovon jeder fünfte Fall zur Verhandlung kommt.

© Berchtesgaden - Fotolia.com
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Die Anzahl der Strafanzeigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Schutzbefohlenen geht seit den 1950er Jahren deutlich zurück.[26] In Bezug auf sexuellen Missbrauch von Kindern lag die Zahl der Anzeigen zwischen 1955 und 1965 jährlich noch bei 30 und mehr Fällen pro 100.000 Einwohner und bewegt sich seit Mitte der 1990er Jahre zwischen 15 und 20 pro 100.000 Einwohner, wobei im Jahr 2009 weniger als 15 angezeigte Fälle pro 100.000 Einwohner verzeichnet wurden.

Im Jahr 2012 wurden 12.623 Fälle sexuellen Missbrauchs von Mädchen und Jungen zur Anzeige gebracht. Es wird davon ausgegangen, dass in Deutschland die Häufigkeit der Fälle sexuellen Missbrauchs eher konstant oder leicht rückläufig sind.

 

Missbrauch im Familienstellen sehr unterschiedlich

Während Hellinger bei Missbrauch sehr viel Wert auf Versöhnung legt, ohne den Täter zu entlasten, sieht Prof. Dr. Franz Ruppert keine Chance mehr auf Versöhnung und empfiehlt in den meisten Fällen, das Familiensystem als Ganzes (energetisch) zu verlassen.

Ich bin zwar nicht in allen Punkten mit Ruppert einer Meinung, aber im Großen und Ganzen folge ich seiner Traumaaufstellungstheorie der MPT (Mehrgenerationale Psychotraumatologie).

 

Rupperts Modell der Persönlichkeitsspaltung durch Traumata

Ruppert geht davon aus, dass nach einem Trauma die Psyche des Betroffenen in drei verschiedene Teile aufgespalten wird:

(angelehnt an Rupperts Buch „Trauma, Angst und Liebe“ (Affiliate-Link) bei Amazon)

  1. In einen traumatisierten Anteil (TA), in dem die schrecklichen, überwältigenden Erfahrungen durch das Trauma gespeichert ist.
  2. In einen Überlebensanteil (ÜA), der schützende Strategien (unbewusst) ersinnt, sodass möglichst keine Erinnerung an das Trauma hochkommt. Dazu gehören Ablenkungen, Vermeidungsverhalten, Leugnen (dass überhaupt eine traumatische Situation stattgefunden hat), psychische und körperliche ‚Aussetzer‘ und Übersprungshandlungen uvm.
  3. Gesunde Persönlichkeitsanteile (GA)

Im Wesentlichen wie in Abbildung 1 dargestellt

Ruppi-Spaltung

Weiterhin unterscheidet Ruppert verschiedene Arten von Traumata:

  1. Existenztrauma: das Leben direkt bedrohende Situationen (Unfälle, Naturkatastrophen, Überfälle, Krieg etc.)
  2. Verlusttrauma: Verlust von nahestehenden Menschen durch z. B. Tod, Trennung, Adoption, Scheidung etc.
  3. Bindungstrauma: es entsteht keine verlässliche Bindung vom Kind zu Eltern, wichtigen Bezugspersonen etc., weil diese traumatisiert sind. Ist es die Mutter, so spricht Ruppert von Symbiosetrauma, das ganz besonders schweren Einfluss hat.
  4. Bindungssystemtrauma: in einem Familiensystem kommt es zu schwerwiegenden Übergriffen auf andere Familienmitglieder, z. B. Mord, Missbrauch, Inzest, schwerer Gewalt und Misshandlungen etc. Dies kann von Generation zu Generation weitergegeben werden.

 

Erweiterungen von Rupperts Modell

Bei meinen eigenen Beobachtungen in Aufstellungen und bei Gesprächen mit Betroffenen sind mir noch weitere, nicht wissenschaftlich belegte Dinge aufgefallen, die ich in den Abbildungen 2 bis 4 dargestellt habe.

So kommt es wie in Abbildung 2 zu sehen nach längerer Nichtbehandlung eines Traumas zu einem Anwachsen des Überlebensanteils, der immer mehr alle Bereiche des Lebens des Betroffenen kontrolliert – auf Kosten des gesunden Anteils. Nicht der traumatisierte Anteil wird größer, sondern die Vermeidungsreaktionen des Überlebensanteils schränken das Leben immer mehr ein.

Bei Trauma gilt leider, dass die Zeit NICHT alle Wunden heilt – ohne Behandlung wächst der Überlebensanteil und damit sinkt die Qualität des Lebens.

Während Ruppert in seinem Standardmodell (Abbildung 1) keine quantitativen Aussagen zur Dauer von traumatischen Erfahrungen macht, fiel mir auf, dass eine länger andauernde traumatische Situation – wie beim Beispiel vom Missbrauch von Nadeschda (ca. 5 Jahre) – auch einen größeren Einfluss auf die Psyche hat. In Abbildung 3 kann man schematisch sehen, wie im Vergleich zu Abbildung 1 in 3 der gesunde Anteil sehr klein ist und der Löwenanteil unter Trauma- und Überlebensanteil aufgeteilt ist.

Ruppert lehnt die Arbeit mit Ressourcen in Aufstellungen ab, weil diese nur den Überlebensanteil stärken würden.

Meiner Beobachtung nach können Ressourcen (unterstützende, innere und äußere Potenziale zur Problembewältigung) jedoch sowohl den Einfluss des traumatisierten Anteils ‚schmälern‘ als auch den des Überlebensanteils (dargestellt in Abbildung 4).

Meine Aufstellungsarbeit ist deshalb Ressourcen-orientiert.

 

Nadeschdas Aufstellung

Ich erklärte Nadeschda das Modell der Aufspaltung in Persönlichkeitsanteile in meiner Abwandlung.

Da sie die Erfahrung der Dissoziation gemacht hat (s.o. „…Plötzlich schaue ich auf mich herunter: auf das kleine Mädchen, das man unter dem Körper ihres Vaters nicht mehr erkennen kann. Das vor Angst erstarrt nur noch will, dass es vorbei ist. Ich fühle nichts und alles kommt mir unwirklich vor …“), versteht sie sofort, was ich mit Abspaltung meine.

Wir haben die Aufstellung in drei Teilaufstellungen durchgeführt:

In der ersten Aufstellung suchten und fanden wir zwei verlässliche Ressourcen: Erzengel Gabriel (R1) und die Musik (R2).

Im zweiten Teil stellte sie die Persönlichkeitsanteile auf:

Traumatisierter Anteil (TA), Überlebensanteil (ÜA) und gesunden Anteil (GA)

Nadeschda 5

Abbildung 5: Anfangsbild

Die beiden Ressourcen Erzengel Gabriel (R1) und Musik (R2) flankieren den gesunden Anteil (GA) von Nadeschda. Ihr gegenüber steht der Überlebensanteil (ÜA) und verdeckt den traumatisierten Anteil (TA).

Ich bitte die Stellvertreter sich ohne Worte frei zu bewegen, d. h. ihren Bewegungsimpulsen zu folgen, bis diese zum Erliegen kommen.

Nach einigen Minuten ergibt sich folgendes Endbild:

Nadeschda 6

Abbildung 6: Endbild

Die Musik stärkt als Ressource im Rücken den gesunden Anteil von Nadeschda. Erzengel Gabriel ‚verbindet‘ den gesunden und den Überlebensanteil wie ein Scharnier. Der gesunde Anteil hat jetzt freien Blick auf den traumatisierten Anteil. Beide tauschen einen ‚schweren‘ Blick miteinander aus. Der traumatisierte Anteil seufzt.

Wir belassen es dabei und vertrauen auf die Nachwirkung dieses ersten und wichtigen Schrittes.

In der dritten und letzten Teilaufstellung verlässt Nadeschda das Familiensystem.

Wir definieren das Innere des Stuhlkreises als Familiensystem, den Bereich außerhalb des Stuhlkreises als ‚außerhalb des Familiensystems‘.

Nadeschda selbst ist in der Aufstellung und geht langsam rückwärts aus der Mitte des Stuhlkreises bis zum Rand.

Hier sagt sie: „Ihr seid und bleibt meine Familie! Ich verlasse jetzt dieses Familiensystem und sorge für mich selbst.“

Dann dreht sie sich abrupt um und geht einige Schritte aus dem Stuhlkreis.

Sie weint und atmet schwer.

Ich frage sie, ob sie nicht doch zurück will.

Sie bleibt stark und als ich ihr vorschlage, symbolisch auch noch durch die Tür den Raum zu verlassen, tut sie es.

Wir beenden die Aufstellung und ich hole sie wieder herein.

 

Was es bedeutet, das Familiensystem zu verlassen

Das Familiensystem zu verlassen ist ein gravierender und endgültiger Schritt.

Es sollte immer der letzte Ausweg sein und nicht leichtfertig vollzogen werden.

Man verzichtet damit freiwillig auf alles, worauf man insgeheim (oft auch unbewusst) noch hoffte – z. B. nicht gegebene Anerkennung, Aufmerksamkeit, Liebe, Verbundenheit, Geborgenheit etc.

Meist sind das unerfüllte Wünsche unseres inneren Kindes – dass alles wieder gut wird, dass es endlich alles anders wird usw.

Es wird viel zurückgelassen, der Preis ist hoch.

Der Gewinn erscheint erst einmal sehr klein: man ist nicht mehr den Verstrickungen und Einflüssen des Familiensystems ausgesetzt – vor allem nicht den abgespaltenen Traumaeinflüssen der Familie inklusive Ahnen.

Doch erst mit dem Verlassen des Familiensystems kann das ‚Überschreiben‘ der Traumaerfahrungen wirklich beginnen, sodass sie mehr und mehr verblassen und damit der gesunde Anteil wachsen kann.

 

Ein langer Weg

Nadeschda war von ihrem Vater ungefähr 5 Jahre regelmäßig missbraucht worden.

Eine Aufstellung allein kann nicht als eine Art Instant-Lösung dieses Faktum beiseite kehren.

Es braucht weitere Aufstellungen und weitere flankierende Maßnahmen, um zumindest auf eine Nulllinie zu kommen.

Ein wichtiger Baustein dazu sind die Erfahrungen als Stellvertreter.

Je mehr man an Aufstellungen teilnimmt, desto mehr kann auf indirektem Weg an seinen eigenen Traumata gearbeitet werden.

Weiter ist Körperarbeit – gerade bei sexuellem Missbrauch bitte ganz langsam, behutsam und achtsam – sehr hilfreich.

Nadeschda hat den Weg der Heilung beschritten. Jeden Tag gewinnt sie ein Stück Lebensqualität zurück.

Und dann trifft sie wieder ein Flashback, bei dem sie z. B. den Atem ihres Vaters riecht und ihr fast übel wird.

Doch auch die Flashbacks und Erinnerungen auslösende Ereignisse (Trauma-Trigger) werden mit der Zeit weniger.

Nach Rupperts Modell hat Nadeschda ein Bindungstrauma und ein Bindungssystemtrauma.

Ihre Beharrlichkeit, die Themen anzugehen und nicht aufzugeben, wünsche ich allen Traumatisierten.

Gib nicht auf!

Du bist es wert!

Wir freuen uns auf dich!

Danke, dass du es zumindest versuchst!

 

P.S.: Nadeschda heißt aus dem Russischen übersetzt übrigens ‚Hoffnung‘ …

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