„Ich habe erst mit 15 Jahren erfahren, dass meine Mutter eine Fehlgeburt hatte und ich eigentlich eine jüngere Schwester hätte.“
„Wie alt warst du da?“
„So ungefähr 4 Jahre – ich kann mich aber an nichts erinnern …“
„Wie würdest du dein Grundlebensgefühl beschreiben?“
„Ich … fühle mich nicht ganz da … und irgendwie schuldig … manchmal habe ich starke Todessehnsucht und gehe dann auf den Friedhof … dort geht es mir dann irgendwann wieder besser …“
„OK, das sind genug Informationen für die Aufstellung …“
Auf die Bitte meiner Übersetzerin ins Englische, Laura Ghedina, hin wurde mir bewusst, dass ich bisher noch kein Beispiel dieser leider sehr verbreiteten Dynamik gebracht habe. Ich habe hier (Klick!) schon einen Artikel zu stellvertretender Nachfolge geschrieben, aber die wichtigere Grundform der einfachen Nachfolge blieb bisher unberücksichtigt.
Die Dynamik der Nachfolge
Wenn ein nahestehender Verwandter oder Partner (im Kriegsfall auch Kameraden/Freunde) stirbt, kann es passieren, dass der persönliche Trauerprozess entweder gar nicht stattfindet oder unterbrochen wurde.
Das kann verschiedene Ursachen haben:
– Überforderung
– Verdrängung, weil andere Probleme sehr stark einwirken
– Nicht-Trauern-Dürfen, weil die Beziehung zu dem geliebten Menschen ein Geheimnis war
– Soziale Erwünschtheit oder gesellschaftlicher Druck: „Ein halbes Jahr in Trauer reicht – jetzt musst du nach vorne schauen …!“ (die Verarbeitung von Trauer und Schmerz ist aber sehr individuell und lässt sich in kein Schema pressen)
Dabei kann es passieren, dass jemand die Tendenz entwickelt, dem anderen in den Tod nachzufolgen. Die Bindung zu dem Verstorbenen ist dann so stark, dass die Angst vor dem Tod keine oder eine untergeordnete Rolle spielt gegenüber dem Wunsch, mit dem Toten wieder vereint zu sein.
Symptome der Nachfolgedynamik
– riskante Lebensführung, generell risikohaftes Verhalten (beim Sport, Autofahren etc.)
– Neigung zu Unfällen und körperlichen Missgeschicken
– Suizidgedanken bis zu Selbstmordversuchen
– Neigung zu schweren, lebensbedrohlichen Krankheiten (v.a. in der Kindheit)
– „Tod auf Raten“ durch extremes Suchtverhalten (Drogen, Alkohol, Rauchen, Essen, Hungern etc.)
– wenig Lebenswille und damit einhergehende Antriebslosigkeit
– Bindungsunsicherheit mit Partnern und Kindern (wechselt zwischen Klammern und Distanzsuche hin und her)
Manche Betroffene haben eine traurige Ausstrahlung, sind blass, wirken leblos und sind generell dem Tod zugeneigt (Gothics, Death Metal …) und bevorzugen schwarze oder dunkle Kleidung.
Nur durch das Spüren des ganzen Schmerzes geht es weiter
Es ist wichtig zu verstehen, dass der ins Stocken geratene Trauerprozess und der ganze Schmerz gefühlt werden müssen, damit es im Leben wirklich weitergeht.
Viele schrecken davor zurück und befürchten, dass sie entweder überwältigt werden vom Schmerz oder dass der Schmerz nie mehr aufhört.
Beide Ängste sind unbegründet und können mit einer achtsamen Begleitung gut bewältigt werden.
Und das Beste daran ist, dass daraus sehr starke Kräfte frei werden, die bisher dafür benutzt werden mussten, den Schmerz in Schach zu halten.
Die Lebensqualität und seelische Kraft sind am Ende des ganzen Prozesses um einiges besser bzw. gestiegen.
Irmgards Aufstellung
Irmgard stellte zuerst so auf:
Bild 1: Anfangsbild (V=Vater, M=Mutter, 1.K = Irmgard)
Irmgard stellt ihre Stellvertreterin an den Rand des Stuhlkreises mit Blick nach außen. Ihr Vater und ihre Mutter sind weiter weg relativ unbeteiligt.
Wir stellen ihre verstorbene Schwester (die Fehlgeburt) ihr gegenüber ins Totenreich (im Stuhlkreis = Reich der Lebenden, außerhalb des Stuhlkreises = Reich der Toten).
Bild 2: Zwischenbild 1 (V=Vater, M=Mutter, 1.K = Irmgard, 2. K = verstorbene Schwester)
Due Stellvertreterin Irmgards spürt starke Trauer. Um die Erfahrung wirkungsvoller zu machen, bitte ich Irmgard selbst in die Aufstellung, die den Platz ihrer Stellvertreterin einnimmt. Das ist in einem Gefühlsprozess wie diesem oft sehr wichtig, um die unmittelbare Erfahrung ganz zu erleben.
L = Leiter der Aufstellung, andere Abkürzungen wie oben
L (zu 1.K): Was spürst du, wenn du hier vor deiner verstorbenen Schwester stehst, Irmgard?
1.K: Mich zieht es ganz stark zu ihr.
L (zu 2.K): Ziehst du sie aktiv oder geht die Bewegung von Irmgard aus?
2.K: Ich ziehe sie nicht. Ich bin etwas traurig, dass sie nicht richtig lebt.
L (zu 1.K): Was macht das mit dir, wenn du hörst, dass deine Schwester traurig ist, dass du nicht richtig lebst?
1.K: Ich will nur zu ihr …
L (zu 1.K): Sie ist tot und du lebst. Was macht das mit dir?
1.K: Ich fühle mich allein und will zu ihr. Ich fühle mich auch schuldig, dass sie tot ist und ich lebe.
Der Zug zu ihrer Schwester ist sehr stark bei Irmgard. Ich stelle das Schicksal hinzu, um zuerst mit ihrem Schuldgefühl zu arbeiten.
Bild 3: Zwischenbild 2 (S = Schicksal, Rest wie oben)
L (zu 1.K): Wende dich mal dem Schicksal zu und schau ihm in die Augen!
Irmgard macht es.
L (zu 1.K): Dass deine Schwester gestorben ist, war eine Entscheidung des Schicksals. Kannst du das spüren?
1.K: Nein … ich weiß nicht …
S (zu 1.K): Doch, es stimmt.
1.K (zu S): Aber warum …? Warum lebe ich und sie ist tot …?
S (zu 1.K): Hier sind größere Kräfte am Werk. Darauf hast du keinen Einfluss.
L (zu 1.K): Lass das mal wirken und atme das mal ein … ja … langsam … lass dir Zeit … es ist nicht deine Schuld, dass deine Schwester gestorben ist … Punkt! … Kannst du das annehmen?
1.K (unter Tränen): Ja …
L (zu 1.K): Könntest du das auch körperlich zeigen und dich vor dem Schicksal verneigen?
Irmgard nimmt sich Zeit. Dann verneigt sie sich langsam. Sie atmet hörbar aus.
L (zu 1.K): OK, wende dich nun wieder deiner Schwester zu und schau ihr in die Augen.
Sie dreht sich wieder zu ihrer Schwester.
L (zu 1.K): Ich gebe dir jetzt ein paar Sätze vor. Am Besten formulierst du sie in deinen eigenen Worten. Lass dir dabei so viel Zeit, wie du brauchst, um beim Gefühl zu bleiben. OK?
1.K: OK …
L (zu 1.K): ‚Liebe Schwester, du bist tot und ich lebe. Es ist sehr schmerzhaft für mich, dass du so früh gegangen bist …‘
Sie sagt es unter Tränen. Dann umarmt sie ihre tote Schwester lange. Schließlich trennt sie sich von ihr.
L (zu 1.K): ‚Ich gebe dir einen großen Platz in meinem Herzen. Ich lasse dich jetzt gehen. Bitte schau freundlich auf mich und mein Leben. Ich bleibe noch ein bisschen und dann komme ich auch.‘
Irmgard wiederholt es in ihren Worten.
L (zu 2.K): Könntest du Irmgard ungefähr wie folgt antworten, wenn es stimmig für dich ist …?
‚Liebe Irmgard, auch ich gebe dir einen großen Platz in meinem Herzen. Ich ziehe mich jetzt in das Reich der Toten zurück. Ich wünsche dir ein glückliches und erfülltes Leben – mach was daraus mir zum Andenken.‘
Die tote Schwester sagt es mit ihren eigenen Worten und geht einen symbolischen Schritt zurück.
Ich geleite Irmgard nach einiger Zeit sanft zu ihrer Mutter und stelle sie neben diese. Das Schicksal hat die Aufstellung von selbst verlassen.
Bild 4: Endbild
Irmgard steht neben ihren Eltern und schaut in eine neue Zukunft ohne Todessehnsucht und Schuldgefühl.
Wir beenden die Aufstellung.
Nachbetrachtung
Es kommt häufiger vor, dass sich die Überlebenden schuldig fühlen, wenn eine nahestehende Person stirbt. Besonders ist das bei Unglücken oder Katastrophen zu sehen.
Hier ist es erst einmal wichtig, das Schuldgefühl aufzulösen, weil das wie eine Barriere vor der eigentlichen Trauer liegt und diese umschließt.
Erst dann kann man wirksam mit der Trauer arbeiten.
Manchmal gibt es auch eine Wut auf das Schicksal, die erst einmal ausgedrückt werden muss. Erst wenn der Betroffene dann mit dem Schicksal im Reinen ist, indem er seine Machtlosigkeit ihm gegenüber eingesteht, kann die Aufstellung weitergehen.
Es kommt auch vor, dass die Toten die Lebenden zu sich ziehen, weshalb ich in der Aufstellung dies abfragte. In diesem Fall müsste man intensiv mit dem Toten arbeiten und eventuell den Betroffenen mit Ressourcen unterstützen.
Irmgard hat seit der Aufstellung neuen Lebensmut gefasst und ist einige Zeit später kaum wiederzuerkennen. Ihre traurige Grundhaltung ist einer lebensbejahenden Fröhlichkeit gewichen.
Es ist, als ob ein Knoten gelöst wurde und ihr ganzes Leben verändert sich fortwährend zum Positiven.
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