Panikattacken und Angststörungen im Familienstellen

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„Mein Herz fängt an zu rasen, ich bekomme Schweißausbrüche und mein ganz Körper fängt an zu zittern …“

„Wann tritt die Panikattacke auf, Carola?“

„Total überraschend. Sie überfällt mich regelrecht.“

„Wenn du mal ganz vorsichtig an die letzte Situation zurückdenkst, in der die Panik begann: gab es da irgendeinen Auslöser? Ein Geräusch, einen Geruch, eine Stimme … War es Tag oder Nacht …? Fällt dir irgendetwas ein?“

„Ich … ich glaube, es roch nach Kardamom …“

Angststörungen in Deutschland

In Deutschland waren in 2010 ca. 15,3 % der Bevölkerung von Angststörungen mehr oder minder stark betroffen (Frauen doppelt so stark wie Männer). Behandlungsbedürftige Panikstörungen traten bei 2% der Deutschen auf ( Quelle/Daten: Angstforum auf WELT online http://www.welt.de/angst/experten/133849695/ / sehr empfehlenswerte Anlaufstelle, um sich auszutauschen und zu informieren).

Neben den „gerichteten“ Ängsten (Angstobjekt muss präsent sein – Schlange, Flug, enge Höhle usw.) und „angerichteten“ Ängsten (akut auftauchende Panik, die mehrere Minuten dauert) ist die generalisierte Angststörung auf dem Vormarsch. Die „Angst vor der Angst“ schränkt das Leben immer stärker ein und Betroffene geraten in Isolation und Depression, die sie ohne Hilfe von außen nicht mehr verlassen können.

In Deutschland kommen im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern noch schwere, kollektive Traumata aus der Geschichte hinzu:

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– Der Dreißigjährige Krieg, der mehr als 70% der damaligen deutschen Bevölkerung durch Krieg, Pest und Hunger auslöschte.

– Der Erste und Zweite Weltkrieg, die neben Tod und Zerstörung starke Schuld- und Schamgefühle hinterlassen haben.

Dass Deutschland als das Land der Angst angesehen wird („German angst“), ist deshalb nicht verwunderlich.

Und hinter den kollektiven Traumata verbergen sich dann die ganz persönlichen Familientragödien, die immer noch – wenn unerlöst – in unsere Familien hineinwirken.

Panikattacken und Angststörungen im Familienstellen

Ich folge bei dieser Thematik mehr den Ansätzen von Prof. Ruppert (München), ohne Hellingers Ansätze dabei zu vernachlässigen.

Hellinger sieht vier Ursachen von Angststörungen:

Immobilisierung durch Panikattacken: mörderische Impulse gegen andere und einen selbst werden „strategisch“ unterdrückt

– Verhinderung der Rückerinnerung an persönliche Schuld („starkes, schlechtes Gewissen“) bzw. verdrängte Täterschaft

übernommen Angst von einem anderen im Familiensystem

– eine unterbrochene Hinbewegung zu einem Elternteil, meist der Mutter. Z. B. durch frühkindliche Krankenhausaufenthalte, abwesenden Vater (Gefängnis, Ausland etc.) oder Weggeben an Verwandte, um im Ausland z. B. zu arbeiten.

Traumatische Erfahrungen: schwere Unfälle oder Katastrophen, Krieg, Missbrauch, Gewalterfahrungen …

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Rupperts Ursachenkategorisierung folgt seinen Traumakategorien:

– Angst als Reaktion auf biografische, traumatische Erlebnisse: Abtreibung, Tod eines nahen Angehörigen (Verlusttrauma), Geburt mit strangulierender Nabelschnur um den Hals (Existenztrauma) …

– aus dem Bewusstsein gelöschte Traumaerfahrungen werden „getriggert“ und dann, weil kein Zusammenhang hergestellt werden kann, als Panikattacke erlebt.

– Angst als Ausdruck eines Bindungssystemtraumas, wenn die Angst von einem Systemmitglied übernommen wurde. Hier haben es dann Therapeuten aus anderen Disziplinen schwer, weil die Angst nicht aus den biografischen Erlebnissen herleitbar ist.

 

Carolas Aufstellung

Bei Aufstellungen zu Panikattacken und Angststörungen bewegen wir uns fast immer in einem Traumaumfeld. Dementsprechend sollte langsam, mit Baby-Steps, vorgegangen werden. Dazu sind Ressourcen zur Unterstützung der Arbeit und des Klienten angesagt – und mehrere Aufstellungen.

Ich habe hier bei Carola mehrere Aufstellungen zusammengefasst und verdichtet.

Zuerst stellten wir Stellvertreter für Carola, ihre Eltern und die Angst auf.

Carola 1

Abbildung 1: Anfangsbild

(C = Carola, A = Angst, V = Vater, M = Mutter)

Um eine übernommene Angst auszuschließen, steht zuerst Carola mit ihren Eltern in der Aufstellung. Die Angst orientiert sich zu Carola und steht schließlich in ihrem Rücken, nach rechts versetzt.

An dieser Stelle ist es sehr wichtig, die Eltern genau zu beobachten.

Zeigen sie Erleichterung, wenn die Angst zu Carola geht oder Bedauern, Wut oder eine andere Reaktion.

Bei Carola zeigte die Mutter Bedauern, der Vater war leicht besorgt.

Würde z. B. einer der beiden Eltern Erleichterung zeigen, könnte es sich lohnen zu überprüfen, ob die Angst von Carola nicht übernommen ist.

Als Nächstes wollen wir herausfinden, wann die Angst eingesetzt hat.

Carola 2

Abbildung 2: Endbild

(A = Angst, G = Geburt, S = Säugling, K = Kleinkind, SK = Schulkind)

Um den ungefähren Zeitpunkt herauszufinden, stellen wir Stellvertreter für die verschiedenen Zeitphasen ihrer Kindheit auf.

G = Geburt, alles, was vor, während und direkt nach der Geburt angstauslösend gewesen sein könnte

S = Säuglingsalter, die Zeit nach der Geburt bis ca. 2 Jahre

K = Kleinkindphase, vom 2. bis 6. Lebensjahr

SK = Schulkind, die Zeit nach der Einschulung

In dieser Aufstellung orientiert sich die Angst zwischen dem Säuglingsalter und der Kleinkindphase.

Um hier nicht zu spekulieren, bitte ich Carola, sich mit ihrer noch lebenden Mutter auszutauschen.

Ihre Mutter berichtete ihr dann verwundert, wie sie darauf gekommen sei, da Carola tatsächlich im Alter von 1,5 Jahren von einer verwirrten Frau in einem Einkaufszentrum zur Weihnachtszeit entführt worden war. Nach zwei Tagen wurde die Frau gefasst und Carola konnte unbeschadet zu ihrer Familie zurück. Die Frau hatte sich sehnlichst ein Kind gewünscht. Sie kam in die geschlossene Psychiatrie.

Für Carola muss das damals sehr schlimm gewesen sein, denn bis zu dieser Zeit war sie nie auch nur einen Tag von ihrer Mutter getrennt gewesen.

Ich riet Carola nach diesen neuen Erkenntnissen, eine Psychotherapie zu beginnen. Jetzt gab es einen konkreten Anhaltspunkt für ihre Panikattacken.

Das Wissen allein um die Ursache ist sehr hilfreich, löst aber noch nicht die ganze Thematik. Jetzt ist ein vorsichtiges, längeres Herangehen eine gute Möglichkeit.

Carola entschied sich für die Psychotherapie und konnte ihre Panikattacken sowohl von der Dauer als auch von der Intensität her deutlich verringern.

Das Wichtigste für sie aber war, dass sie schon bald die Angst vor der Angst verloren hatte, was ihrem Leben sehr gut tat.

Eine andere Möglichkeit

Wenn Carolas Panikattacken nicht ganz so stark gewesen wären, hätte es sich vielleicht gelohnt, die damalige Situation nachzustellen, zu reinszenieren, im Sinne einer Täter-Opfer-Aufstellung.

Im Rahmen einer Supervision haben wir diesen Fall nachgestellt:

Carola 3

Abbildung 3: Anfangsbild

(kC = Carola als Kind, eC = erwachsene Carola, R = Ressource (Großvater), vF = verwirrte Frau (Entführerin), L = Leiter der Aufstellung (nicht abgebildet))

L (zu kC): Sag ihr mal, wie du dich gefühlt hast.

kC (zu vF): Es war schlimm für mich, als du mich damals geraubt hast.

L (zu allen): Fühlt euch mal in eure Rollen ein. Was würdet ihr sagen, tun?

vF: Ich habe mir so sehnlichst ein Kind gewünscht … und dann warst du da …

eC: Du hättest doch auch schwanger werden oder ein Kind adoptieren können!

vF: Aus irgendeinem Grund ging es nicht – ich brauchte sie (zeigt auf kC).

L (zu vF): Ist dir bewusst, dass Carola durch deine Entführung heute Panikattacken hat, z. B. wenn sie in einem weihnachtlichen Umfeld Kardamom riecht?

vF: Ach …?

L (zu eC): Sag ihr mal, wie sehr du leidest.

eC (zu vF): Ich habe seit über 40 Jahren Panikattacken und Angstzustände. Es ist nicht auszuhalten.

L (vF): Berührt das was in dir?

vF: Nein. Bei mir hättest du es gut gehabt …

L (allgemein): Diese Frau ist zu echtem Mitgefühl in dieser Situation nicht fähig. Hier kann es zu keiner Versöhnung kommen. Erwachsene Carola, du solltest dich mit deinem Kind-Ich von der Frau abgrenzen.

Wir holen ein Seil und legen es um R, eC und kC.

Carola 4

Abbildung 4: Zwischenbild

Das kreisförmig um die Drei gelegte Seil verstärkt die Abgrenzungserfahrung optisch. Die erwachsene und die kindliche Carola fühlen sich sicher innerhalb des Kreises.

Zwei Polizisten (P) führen symbolisch die verwirrte Frau ab – wie es ja auch tatsächlich geschehen ist.

Carola 5

Abbildung 5: Endbild

Die Ressource und die kindliche und erwachsene Carola spüren noch einmal tief in die Sicherheit des abgegrenzten Kreises hinein.

Dann wird die Aufstellung beendet.

Nachbetrachtung

Diese alternative Intervention wäre eventuell damals auch möglich gewesen. Die Sicherheit des Schutzkreises hätte als körperliche Erfahrung das Empfinden und damit die Panikattacken Carolas hinreichend beeinflussen können – wir wissen es nicht.

Wichtig in der ursprünglichen Aufstellung war das Herausfinden der wirklichen Ursache der Panikattacken. Mit diesem Wissen kann dann weitergearbeitet werden, egal ob im Familienstellen oder in der Psychotherapie.

Allen Betroffenen von Panikattacken und schweren Angststörungen rate ich, sich kompetente Hilfe zu suchen und ein soziales Umfeld zu suchen oder aufzubauen, das Verständnis für dieses Leiden hat.

Denn meist ist die soziale Isolation langfristig schlimmer als die Panikattacken.

Das oben angeführte Forum der Zeitung WELT ist ein guter, erster Anlaufpunkt.

Gib nicht auf! Es kann länger dauern, bis sich etwas ändert, aber es gibt noch so viel Schönes in deinem Leben zu erfahren.

Viel Glück!


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