Tinnitus – Ungelöstes macht sich störend im Ohr bemerkbar

© pathdoc - Fotolia.com
© pathdoc – Fotolia.com

„Es fing ganz plötzlich an, als ich im Beruf und privat eine Menge Stress hatte: Umstrukturierungen, nachdem unser Unternehmen aufgekauft worden war und jeder um seinen Arbeitsplatz fürchtete, dann trennte sich mein Freund von mir … Eines Morgens wachte ich mit einem unangenehmen Pfeifton im Ohr auf und suchte nach der Schallquelle. Erst dann bemerkte ich, dass es in mir war …“

„Sabrina, verändert sich der Tinnitus oder bleibt er gleich?“

„Er ist immer da, aber wenn ich abgelenkt bin, kann ich ihn manchmal vergessen. Wenn ich Stress habe, bilde ich mir ein, dass er stärker wird.“

„OK, dann schauen wir uns das mal genauer an …“

Ungefähr 3 Millionen Menschen sind von Tinnitus in Deutschland betroffen, wobei er unter Frauen und Männern nahezu gleich verteilt ist.

Ab 3 Monaten spricht man von einem chronischen Tinnitus, davor von einem akuten.

Bisher gibt es keine Heilung des Tinnitus, nur Linderung oder das Erlernen von Bewältigungsstrategien, um mit dem Ohrgeräusch leben zu können.

Für weitere Informationen und zur Vertiefung:

https://de.wikipedia.org/wiki/Tinnitus

http://www.tinnitracks.com/de/tinnitus

Auch das Familienstellen kann den Tinnitus nicht heilen – zumindest ist mir kein Fall bekannt, bei dem nach einer Aufstellung der Tinnitus dauerhaft geheilt wurde.

© DOC RABE Media - Fotolia.com
© DOC RABE Media – Fotolia.com

Das Familienstellen verfolgt deshalb das Ziel, die Hintergründe zu beleuchten und gegebenenfalls ungute Verbindungen aufzulösen, sodass die Chance auf Milderung der Intensität des Störgeräuschs entsteht.

Tinnitus ist ein Symptom und steht damit stellvertretend für eine tiefer liegende Ursache.

Im Hellinger-Umfeld werden Abtreibung, Schuld und plötzliche Tode als mögliche Ursachen diskutiert.

Meiner Beobachtung nach geht es meist um Unerlöstes und Nicht-Angeschautes, auf das mit dem Tinnitus hingewiesen wird, im Sinne von etwas nicht hören wollen oder nicht beachten.

Sabrinas Aufstellung

Seit über einem Jahr leidet Sabrina an Tinnitus. Glücklicherweise hat sie relativ früh den Rat ihrer HNO-Ärztin befolgt und sich einer Tinnitus-Selbsthilfegruppe angeschlossen. Das war auch insofern gut, da sie durch die Trennung von ihrem Freund einen großen Teil ihres sozialen Umfeldes verloren hatte. Jetzt ist sie von Menschen umgeben, die ihr Leiden nachvollziehen können und ihre damit einhergehenden Probleme verstehen.

Von der Aufstellung erhofft sie sich, die systemische Ursache zu finden, warum sie Tinnitus hat, um letztendlich durch Wissen Gelassenheit zu erreichen.

Dies ist eine sehr entlastende Strategie, denn ein Teil des Stresses kommt daher, dass man sich innere, destruktive Fragen stellt.

Und der Stress wiederum verstärkt die Symptomatik des Tinnitus.

In Sabrinas Familiensystem gab es zunächst keine Auffälligkeiten wie frühe Tode, Abtreibungen, Unfälle, Unglücke etc.

Für die Aufstellung wählen wir ein sogenanntes Diagnoseformat:

Stellvertreter für Sabrina (S), den Tinnitus (T) und den Hintergrund (HT) des Tinnitus:

Sabrina 1

Abbildung 1: Anfangsbild

Der Tinnitus steht rechts, nahe bei Sabrina. Beide schauen auf den Hintergrund des Tinnitus. Dieser steht am Rand und schaut aus dem Fenster in die Ferne auf einen Baum.

Eine anschließende Befragung der drei Stellvertreter ergab nur ein diffuses Unwohlsein.

Wir stellen Sabrinas Vater (V) und Mutter (M) hinein, um herauszufinden, aus welcher Linie der Tinnitus stammen könnte – vielleicht sogar von beiden.

Sabrina 2

Abbildung 2: Zwischenbild 1

Die Mutter orientiert sich mit etwas Anstand zu Sabrina. Der Vater steht beim Hintergrund des Tinnitus. Beide schauen in dieselbe Richtung auf den Baum in der Ferne. Der Tinnitus scheint also irgendetwas mit dem Vater oder dessen Linie zu tun zu haben.

L = Leiter der Aufstellung, andere Abkürzungen wie oben

L (zum V): Welches Gefühl ist in dir, wenn du da aus dem Fenster auf den Baum schaust?

V: Es ist wie … Sehnsucht oder … unerfüllte Träume …

L (zum V): Zieht es dich in den Tod oder zu einer Person?

V: Nein … da ist etwas wie Wald … Natur … ursprüngliche Landschaft …

L (zu Sabrina Klientin): Hast du Resonanz darauf? Gab es bei deinem Vater, Großvater usw. jemanden, der eine solche Sehnsucht hatte?

S (Klientin): Mmmh … Also mein Vater ist sehr naturverbunden … Ich glaube, er wollte früher mal nach Kanada auswandern.

L (zum V): Wenn du jetzt an Kanada denkst, verändert sich da was bei dir?

Der Vater beginnt zu strahlen.

V: Ja, das fühlt sich unheimlich gut an. Ich wäre gern dort.

L (zu Sabrina Klientin): Weißt du vielleicht, warum es damals mit Kanada nicht geklappt hat?

S (Klientin): Naja, meine Mutter wurde mit mir schwanger, sie haben geheiratet und er wurde befördert zum Abteilungsleiter. Da hat sich alles irgendwie im Sande verlaufen.

L: Danke. OK …

L (zum V): Dreh dich mal bitte zu deiner Frau und deiner Tochter um!

Der Vater dreht sich widerstrebend den beiden zu.

Sabrina 3

Abbildung 3: Zwischenbild 2

L (zum V): Das ist deine Frau. Mit ihr hast du eine gemeinsame Tochter – Sabrina. Sie leidet seit über einem Jahr an Tinnitus.

V: Mmmh …

L (zum V): Bist du dir bewusst, dass das deine Familie ist?

V: Ja, schon …

L (zum V): Bist du neugierig, sie mal näher kennenzulernen?

V: OK …

L (zum V): Du könntest zum Beispiel etwas näher kommen … vielleicht einen Schritt oder zwei …

Der Vater geht zwei Schritte auf Sabrina und die Mutter zu.

L (zum V): Kannst du zu deiner Frau sagen: „Du bist meine Frau, ich habe dich gewählt.“

Er sagt es etwas zögernd.

L (zum V): Kannst du zu deiner Tochter sagen: „Du bist meine Tochter, ich bin dein Vater.“

Er sagt es etwas noch zögernder. Sabrinas Stellvertreterin ist sichtlich traurig, dass es ihm so schwer fällt.

L (zum S): Sag deinem Vater mal so etwas wie: „Papa, ich bin deine Tochter. Bitte …!“

Sie sagt es. Der Vater ist wie erstarrt.

L (zum V): Wie ist es für dich, Frau und Tochter zu haben?

V: Unwirklich. Ich glaube, ich merke erst jetzt, dass ich eine Familie habe. Es ist wie ein Aufwachen …

L (zum V): OK, lass dir Zeit, aber schau sie dabei an.

Der Vater macht einen Schritt auf Sabrina zu und bleibt dann unschlüssig stehen.

L (zum V): Was ist bei dir jetzt?

V: Ich möchte nicht weiter. So ist es OK für mich.

Ich bitte Sabrina selbst in die Aufstellung.

L (zum S): Geh mal einen Schritt auf deinen Vater zu, wenn sich das stimmig für dich anfühlt.

Sabrina macht einen Schritt. Der Vater schaut abwartend, während sich der Stellvertreter des Tinnitus wie eine Art Verbindungsglied sowohl neben Sabrina als auch ihren Vater stellt.

V: Noch näher darf sie mir nicht kommen. Das wird mir zu viel.

L (zum V): Wie fühlst du dich jetzt mit deiner Tochter?

V: OK, aber noch näher mag ich es definitiv nicht haben. Sie ist mir immer noch etwas fremd.

L (zum T): Warum stehst du so bei Sabrina und Vater?

T: Durch mich kann Sabrina ihrem Vater nahe sein.

L (zum T): Wie das?

T: Ich bin wie der ferne Ruf von Kanada.

L (zum S): Aha … Hast du da Resonanz drauf, Sabrina?

S: Ja! Ich habe Gänsehaut bekommen, als der Tinnitus das gesagt hat.

L (zum S): Kannst du deinem Vater mal – vielleicht in eigenen Worten – sagen: „Mit dem Tinnitus bin ich dir nahe, näher als hier und im wirklichen Leben.“

Sie sagt es. Der Vater nickt und lächelt. Sabrina lächelt ebenfalls. Als sie darauf näher kommen will, weicht der Vater zurück.

L (zum S): Auch wenn es dir schwerfällt – versuche mal die Distanz zwischen dir und deinem Vater zu achten.

L (zum M): Könntest du dich neben deine Tochter stellen, sodass sie in deinem Bannkreis ist?

M: Ja, gern.

L (zum S): Kannst du die Nähe deiner Mutter spüren?

S: Ja. Es tut gut.

Sabrina 4

Abbildung 4: Endbild

L (zum S): Es wäre zum jetzigen Zeitpunkt ein zu starker Eingriff in das Schicksal deines Vaters, wenn wir jetzt bei ihm tiefer hineingehen – da müsste er schon selbst kommen.

Ich würde es hier stehen lassen. Kannst du damit sein?

S: Ja.

L: Gut.

Wir beenden die Aufstellung.

Nachbetrachtung

Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als ob der Tinnitus für die übernommene Sehnsucht des Vaters steht und eventuell zurückgegeben werden könnte, so geht es hier nicht um Übernommenes.

Vielmehr konnte der Vater aus irgendeinem Grund sich nicht auf seine Familie und besonders auf Sabrina einlassen.

Durch den Tinnitus schafft Sabrina eine besondere Nähe zu ihrem Vater, indem sie sich quasi an seine Sehnsucht nach Kanada „andockt“. Damit fließen unbewusst liebevolle Gefühle auf einem Umweg zu Sabrina, die sie so nicht von ihrem Vater bekommen hätte.

© fotoliaxrender - Fotolia.com
© fotoliaxrender – Fotolia.com

Es ist bezeichnend, dass der Tinnitus bei Sabrina genau dann auftrat, als sie ihren Vater besonders gebraucht hat: Umstrukturierungen mit Personalabbau in der Firma (Karriere oft Vaterthema) und Trennung vom Freund (Vater als erste männliche Kraft im Leben).

Mit dem Wissen, dass der Tinnitus sie mit ihrem Vater verbindet, kann sie jetzt dem Tinnitus innerlich beispielsweise begegnen, indem sie innerlich den Satz sagt:

Vater, gerade bin ich dir wieder ganz nahe!

Allein das birgt das Potenzial, innerlich Stress abzubauen und damit den Tinnitus zu dämpfen. Gleichzeitig kann der Tinnitus damit besser angenommen werden.

Allgemein war hier der Tinnitus ein Ausdruck von Bindungsliebe von Sabrina zu ihrem Vater.

Kinder versuchen viel, um den Eltern nahe zu sein – sehr viel.

Als Erwachsene haben wir in manchen Fällen nur die Möglichkeit, diese Strategien anzunehmen und sein zu lassen. Wie Tinnitus gehen sie nicht mehr weg. Aber wir können mit ihnen leben, wenn wir das Bewusstsein haben, dass alles aus Liebe geschieht und diese Liebe auf einer ganzen tiefen Ebene seelische Heilung bringt.


Beitrag veröffentlicht

in

von

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert