„Pia wiegt so viel wie eine 6-Jährige mit ihren 12 Jahren – ich weiß nicht mehr, was ich tun soll …“ – Edith ist verzweifelt.
„Was ist mit ihrem Vater?“
„Thorsten und ich haben uns vor 4 Jahren getrennt und sie sieht ihn ein Wochenende im Monat.“
„Würde er zum Familienstellen kommen?“
„Nein. Niemals. Der lehnt das alles als Humbug ab …“
„OK, dann versuchen wir es über dich zu lösen …“
Magersucht in Deutschland bei Kindern und Jugendlichen
Bei klinisch bekannt gewordenen Fällen sieht es derzeit do aus: Während im Alter von 11 bis 13 Jahren Jungen mit 17,8% und Mädchen mit 23,5% noch nicht allzu weit voneinander weg liegen, ändert sich die Statistik bei 14-17 Jahren drastisch: Jungen 13,5%, Mädchen 32,3% (Quelle: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/256716/umfrage/essstoerungen-bei-maedchen/ ).
Magersucht wird mit zunehmendem Alter zu einem „weiblichen“ Problem.
Das Selbsthilfeportal www.magersucht.de sieht einen Teil der Ursachen in seinem familiendynamischen Modell bei starkem Harmoniestreben innerhalb des Familienverbandes, tabuisierendem Verhalten zu Lust und Sex und Problemen mit Trennung- und Verlustthemen (Kurzdarstellung: ausführlich hier http://www.magersucht.de/krankheit/familiendynamik.php ).
Alarmiert sind Mediziner und gesellschaftliche Gruppen, dass seit 2005 die Fälle von Anorexie nervosa (Magersucht) von 5069 diagnostizierten Fällen bis 2014 auf 8419 Fälle anstieg.
Magersucht beim Familienstellen
Im Allgemeinen folgen die Aufsteller Hellingers Ansatz, dass bei Magersucht eine stellvertretende Nachfolgedynamik wirkt. Das heißt, dass ein Elternteil einen starken Zug in das Totenreich verspürt und das Kind stattdessen „einspringt“, sodass der betroffene Elternteil bleibt.
Ich werde öfter gefragt, wie so eine Dynamik entstehen kann. Wenn ich dann vom magischen Denken und Handeln des Kindes erzähle, ist ein Teil der Fragenden zufrieden. Mehr wissenschaftlich orientierte Menschen können mit dem (vermuteten) evolutionstechnischen Erklärungsversuch meinerseits mehr anfangen:
Ein Elternteil ist im Systemzusammenhang viel wichtiger als ein einzelnes Kind. Wenn ein Elternteil stirbt, hat es die ganze Familie viel schwerer, als wenn „nur“ ein Kind stirbt. Im Zweifelsfall kann (später) ein „Neues“ gezeugt werden. Insofern macht es Sinn, wenn das Familiensystem ein Kind für den Elternteil „opfert“, der einen Zug ins Totenreich verspürt.
Wie gesagt ist das nur ein Erklärungsversuch ohne Anspruch auf wissenschaftliche Richtigkeit.
Franz Ruppert sieht im Gegensatz zu Hellinger diverse Traumata im Familiensystem als Ursache.
Meiner Beobachtung nach haben beide recht und die stellvertretende Nachfolge, die die häufigste Dynamik im Kontext von Magersucht darstellt, ist für mich sowohl ein Verlusttrauma als auch ein Bindungssystemtrauma (ausführlicher dazu in meinem Buch Familienstellen und Trauma).
Ediths Aufstellung
Grafik 1: Anfangsbild
E = Edith (Mutter), T = Thorsten (Vater), P = Pia (magersüchtige Tochter der beiden)
Im Anfangsbild zeigt sich noch wenig. Pia schaut tendenziell mehr zu ihrem Vater. Beide Eltern sind der Tochter zugewandt.
Es ist eine etwas distanzierte Atmosphäre.
Als erste Intervention nehme ich den Größten Schmerz einer der aufgestellten Personen im Zusammenhang mit der Magersucht der Tochter in die Aufstellung hinein.
Grafik 2: Zwischenbild
E = Edith (Mutter), T = Thorsten (Vater), P = Pia (magersüchtige Tochter der beiden), GS = Größter Schmerz
Der Größte Schmerz orientiert sich sofort zum Vater. Pia dreht sich um und schaut außerhalb des Stuhlkreises, definitionsgemäß das Reich der Toten.
Dieses Bild ist ein typisches Bild für eine Nachfolge.
Wichtig ist jetzt zu klären, ob es eine direkte Nachfolge ist, weil z. B. der ältere Bruder von Pia gestorben ist oder es eine stellvertretende Nachfolge ist, weil beispielsweise der Bruder der Mutter bei einem Unfall ums Leben kam und Pia statt ihrer Mutter „einspringt“.
Um diese Dynamik zu klären, bitte ich den Größten Schmerz sich seinen eigenen Impulsen nach zu bewegen im Sinne einer Stillen Aufstellung.
Der Größte Schmerz geht langsam aus dem Stuhlkreis heraus und wendet sich von da aus dem Vater zu.
Dieser folgt bis an den Rand des Stuhlkreises und schaut den Größten Schmerz wie hypnotisiert an.
Diverse Interventionen beim Vater fruchten nicht, sodass ich zuerst die Tochter in den Bannkreis der Mutter stelle und die Mutter sagen lasse:
E (zu P): Bei mir bist du sicher, Pia. Was bei deinem Vater ist, geht nur ihn etwas an. Du kannst und darfst ihn nicht retten.
Pia nickt stumm und schaut bedrückt.
Ich bitte Edith darum, wenn es für sie stimmig ist, Folgendes zu sagen:
E (zu T): Auch wenn du der Vater meiner Tochter bist, lasse ich dich ziehen. Ich achte dein Schicksal und deinen Willen, auch wenn es dich in den Tod zieht.
Grafik 3: Endbild
Thorsten reagiert erleichtert und seine Augen werden klarer. Trotzdem bleibt der Zug ins Totenreich sehr stark.
An dieser Stelle müsste jetzt mit Thorsten selbst weitergearbeitet werden. Da dieser nicht kommen wollte und auch nicht mehr kam, müssen wir diese Entscheidung voll akzeptieren und uns nicht in sein Schicksal einmischen.
Pia ist im Bannkreis ihrer Mutter sicher.
Wir haben mit Edith in weiteren Aufstellungen gearbeitet, um ihr mit Ressourcen und Auflösung von anderen Familiendynamiken zu helfen, genug Kraft mit für Pia zu haben.
Meines Wissens lebt der Vater trotz des starken Zuges ins Totenreich immer noch. Wie lebendig er tatsächlich ist, kann ich nur schwer beurteilen. Menschen mit dieser Dynamik kommen nur schwer ganz im Leben an.
Pia hat heute ein relativ normales Gewicht für ihr Alter. Sie ist immer noch sehr schlank, aber keinesfalls magersüchtig.
Edith macht weiter Familienaufstellungen und löst immer mehr ihrer alten Verstrickungen.
Das tut beiden gut: Mutter und Tochter.
Nachbetrachtung
In diesem Fall war eine stellvertretende Nachfolge die Dynamik, die zur Magersucht als Symptom bei der Tochter Pia führte.
Dass hier noch andere Dynamiken im Hintergrund wirken, lässt sich meines Erachtens daran ablesen, dass Pia immer noch sehr schlank ist.
Die Hintergründe für Magersucht sind immer noch nicht hinreichend geklärt – auch nicht durch das Familienstellen.
Diese Tatsache lässt mich vermuten, dass Magersucht ein aus mehreren Teilen bzw. Dynamiken bestehendes Symptom ist, dass man Stück für Stück freilegen und heilen müsste.
Meiner Meinung nach sollten hier für das Familienstellen offene Psychotherapeuten und Familiensteller zusammenarbeiten, um der betroffenen Familie als Gesamtsystem zu helfen.
Bis dahin bleibt den betroffenen Eltern leider wenig anderes übrig als vom einen zum anderen zu gehen und sich die Hilfe schrittweise zu holen.
Ich wünsche den Betroffenen die Ausdauer, am Ball zu bleiben!
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