Sinnlosigkeit und Sinnsuche – Wie Viktor Frankls Logotherapie im Familienstellen integriert werden kann

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„Immer wieder ist mir alles zu viel. Die Kinder nerven, dauernd ist das Geld knapp und mit meiner Frau rede ich fast nur noch über Organisatorisches, die Kinder, die Arbeit …“

„Was ist das Grundgefühl deines Lebens, Mike?“

„Irgendwie sinnlos – ich strample mich ab für nichts. Ich hatte so große Träume Anfang 20: Die Panamericana von Alaska bis Feuerland bereisen, auf der Karriereleiter schnell vorankommen und mit meinem Fußballverein aufsteigen …“

„Und was ist dann passiert?“

„Das Leben …, mir nichts dir nichts war ich Vater, verheiratet und alle Träume haben sich in Luft aufgelöst … am liebsten würde ich Zigaretten holen gehen und noch mal woanders ganz von vorne anfangen …“

Sinnlosigkeit in der heutigen Zeit

Nicht erst seit der No-Future-Generation der 80er ist die erfolglose Sinnsuche im Mainstream angekommen. Während früher Traditionen und Religion mit Moral den Menschen einen roten Faden durch das Leben gaben für den Preis der Unterordnung und Anpassung, lebt ein Großteil der Menschen von heute in einer Welt der Beliebigkeit, Anonymität und Verlorenheit.

Interessante Konzepte wie das kanadische Tugendprojekt (Virtues Project TM) oder die Gemeinwohl-Initiative aus Österreich, die die Sinnsuche und Sinnbildung unterstützen, führen noch immer ein Schattendasein.

Der Überbetonung des Ichs in unserer Gesellschaft stehen wenig Wir-Erfahrungen gegenüber. Der Sprecher und Buchautor Veit Lindau schlägt ganz konkret die Entwicklung und das Training eines WeQ vor, wobei eine Wir-Gefühl-Erfahrung keine persönliche Sinnsuche ersetzen kann.

Die Logotherapie von Viktor Frankl

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Der österreichische Psychologe und Therapeut Viktor Frankl hat nach dem Überleben des Konzentrationslagers seinen Fokus auf den Sinn und die Sinnsuche des Menschen gelegt.

Sehr empfehlenswert sind seine Bücher

Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn: Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk

und

Ärztliche Seelsorge: Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse,

in denen er die Grundzüge seiner Erkenntnisse darlegt.

Es würde zu weit führen, sein Werk und seine 10 Kernthesen hier in diesem Artikel zu besprechen.

Wichtig ist im Kontext des Familienstellens, dass Viktor Frankls Ansatz auf das höchste Potenzial eines Menschen hinarbeitet, welches nur mit einem (positiven) Lebenssinn erreicht werden kann (stark verkürzte und vereinfachte Darstellung des Ziels der Logotherapie).

Interdependenzerfahrungen im Familienstellen

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Interdependenz – alles ist miteinander verbunden und hängt voneinander ab – ist eine wichtige Erfahrung im Familienstellen.

Wenn Menschen, die zum Familienstellen gehen, das erste Mal sehen, dass Stellvertreter einen Verwandten von sich so genau darstellen, ohne ihn zu kennen, kann es zu einem Aha-Erlebnis kommen, dass alles auf einer tieferen Ebene des Seins miteinander verbunden ist.

Bei manchen kommt es sogar zu einem Gefühl von Ehrfurcht und Glück, wenn das bis dahin abgekapselte Dasein wie aufgesprengt wird und man das Gefühl hat, einen anderen Menschen für eine kurze Zeit ganz zu verstehen (vor allem in der Rolle als Stellvertreter/in).

Dies ist besonders für traumatisierte Menschen ein großes Geschenk, da sie sich im Umgang mit anderen oft schwer tun und sich leicht isoliert fühlen.

Dass jemand zum Familienstellen geht, ist für mich ein deutlicher Hinweis, dass es in ihr oder ihm einen Anteil gibt, der einen Sinn sucht oder bereits hat.

Hintergründe vom Gefühl der Sinnlosigkeit

Mein Ausbilder Wolfgang Bracht hat in seiner langjährigen Erfahrung sechs Haupthintergründe vom Gefühl der Sinnlosigkeit identifiziert:

  1. Unerlöste Verletzungen

Am häufigsten tritt das Gefühl der Sinnlosigkeit bei einem Getriggert-Werden von alten, unerlösten Verletzungen auf: traumatische Erfahrungen, unterbrochene Hinbewegung zu einem Elternteil oder z. B. unverarbeitete Trennungen von Ex-Partnern.

Der wichtige Punkt dabei ist, dass es schon damals ein Gefühl der Sinnlosigkeit gab.

Deshalb ist es hierbei wichtig, zuerst einmal die Verletzung von dem Gefühl der Sinnlosigkeit abzukoppeln, um das Muster zu unterbrechen.

Viktor Frankl hat hier z. B. die paradoxe Intention (übertriebene Verstärkung des hinderlichen Musters, was zu einer unbewussten Gegenreaktion führen kann) oder die Dereflexion (aktive Nichtbeachtung eines störenden Musters und volle Konzentration auf ein lohnendes Ziel oder Verhalten) entwickelt, die sich in einer Kurzform auch gut in das Familienstellen integrieren lassen.

Nicht zuletzt gehört hierzu auch die Umdeutung einer schmerzhaften Erfahrung als z. B. notwendige Voraussetzung für eine zu entwickelnde Fähigkeit. Beispielsweise könnte ein selbst erlebtes Trauma eine gute Voraussetzung dafür sein, als Therapeut sich auf Traumaklienten spezialisieren zu können, weil man deren Erleben und Erfahrungen besser nachvollziehen kann.

  1. Unerfüllte Bedürfnisse

Wenn elementare Bedürfnisse eines Menschen über eine lange Zeit nicht oder nur unzureichend erfüllt werden, kann es zu einem tiefen Gefühl der Sinnlosigkeit kommen.

Wenn z. B. das Sicherheitsdenken des einen Partners jegliches Abenteuer oder anregende Erfahrungen des anderen Partners unterdrückt, wird nicht nur die Beziehung infrage gestellt, sondern es kann auch zu einer generellen Sinnkrise führen – die Seele will unbedingt Erfahrungen machen.

Hierbei helfen am besten Innere-Team-Aufstellungen, wo jedem Bedürfnis ein innerer Vertreter zugeordnet wird, z. B. der Abenteurer, die Spirituelle, der Bewahrer etc. und sie über Stellvertreter eine Stimme bekommen.

Zuerst einmal kann man so unerfüllte Bedürfnisse bewusst machen und dann schauen, was davon abhält oder was es noch braucht, dass das Bedürfnis erfüllt werden kann.

Manchmal kann es sinnvoll sein, die eigene Frustrationstoleranz zu erhöhen, wenn das Bedürfnis nur im Augenblick nicht erfüllt werden kann, aber das Innere Kind immer wieder die Führung übernimmt und enttäuscht in eine Sinnkrise schlittert.

  1. Übernommenes
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Natürlich kann auch das Gefühl der Sinnlosigkeit von jemand anderem im System übernommen worden sein oder Sinnlosigkeit ist der Grundtenor in der Familie und es würde gegen die Bindungsliebe verstoßen (und damit die Zugehörigkeit zur Familie infrage stellen), wenn man das Gefühl der Sinnlosigkeit nicht teilt.

Im Zuge eines Racheprogramms gegenüber den Eltern kann es wichtig sein, permanent zu zeigen, wie sinnlos doch alles ist und die Eltern daran schuld haben – würde man Sinn finden, würde das Racheprogramm nicht mehr aufrechterhalten werden können.

  1. Notwendiger Wertewandel

Viele Menschen haben sich nicht die Mühe gemacht, für sich selbst Prinzipien und Werte zu definieren und sie zueinander in Beziehung zu setzen (z. B. eine Prioritätenskala ihrer Werte aufzustellen).

Meist haben sie der Einfachheit halber die Werte ihrer Eltern oder ihres Umfelds unreflektiert übernommen.

Irgendwann stellen sie fest, dass diese Werte zwar für ihre Eltern passten, aber sie sich nicht (mehr) mit ihnen identifizieren können.

Wenn sie jetzt sich nicht die Mühe machen, ihre eigenen Werte zu finden, stellt sich schleichend ein Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit ein.

Hier ist das Familienstellen selbst ein guter Erfahrungsraum, wo Werte wie bedingungslose Liebe, Vergebung, Ausgleich, Gerechtigkeit, Großzügigkeit und mehr erlebt werden können.

  1. Die eigene Berufung finden

Wenn man die eigene Berufung nicht kennt, kann ein noch so erfolgreiches Leben einen schalen Nachgeschmack haben – andersherum gibt eine gefundene Berufung jeder Entbehrung und Mühsal einen Sinn.

In Aufstellungen kann man sich sehr gut an die eigene Berufung herantasten.

  1. Nicht-Leben seiner Berufung, obwohl man sie kennt

Dies ist eigentlich eine sehr tragische Handlungsweise: der Betroffene kennt seine Berufung, lebt sie aber nicht aus.

Hier gilt es mit dem Familienstellen zu schauen, wer oder was denjenigen daran hindert, seine Berufung zu leben.

Das kann beispielsweise eine übergroße (unbewusste) Loyalität zum Familiensystem sein oder ein Schuld- und Schamthema.

Lösungsansatz

Um effektiv und schnell an der richtigen Stelle anzufangen, kann man für alle 6 oben genannten Kategorien einen Stellvertreter aufstellen.

So findet man ziemlich schnell den oder die möglichen Ansatzpunkte des Gefühls der Sinnlosigkeit.

Wenn es mehrere Punkte gibt, bedarf es eventuell mehrerer Aufstellungen, um das Thema aufzulösen.

Häufige Kombination meiner Erfahrung nach ist 2. Unerfüllte Bedürfnisse und 6. Nicht-Leben seiner Berufung.

Mikes Aufstellung

Bei Mike stellte sich schnell heraus, dass er seine Bedürfnisse nach Abenteuer und Anregung auf äußerster Sparflamme hielt und sich auch seiner Berufung überhaupt nicht bewusst war.

Sich kleine Abenteuernischen in seinem Leben zu erschließen, war die erste Sofortmaßnahme. Viel wichtiger war aber, seine Berufung herauszufinden. Das an sich elektrisierte ihn schon sehr schnell und damit einher ging so manch abenteuerliche Fehltritte, die zwar ärgerlich, aber auch sehr anregend waren.

 

Schlusswort:

Das Gefühl der Sinnlosigkeit ist oft ein Ausdruck stagnierender seelischer Entfaltung und Anregung.

Hier gilt es, nach den Ursachen zu forschen und sich eingefahrenen Mustern zu stellen und zu hinterfragen.

Vielleicht ist es auch Zeit, einen eigenen Wertekanon zu erstellen oder seine Berufung zu finden und zu leben.

Viel Freude beim Entdecken!


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